[…] Nun präsentierte die Nürnberger Oper die szenische Uraufführung des Werkes, die überraschend einhelligen Beifall fand. Das legt fast die Vermutung nahe, daß der Hamburger Skandal hauptsächlich aus dem Hissen der roten Fahne resultierte, was allerdings darauf schließen ließe, dass die Toleranzgrenze einer bürgerlichen Musikgesellschaft mit dem Punkt erreicht ist, an dem eine eindeutige linke politische Position, und sei es auch nur symbolisch, deutlich manifestiert wird.
Daß es Henze gelang, dieses Verhalten, und sei es unfreiwillig, zu demonstrieren, darf man in seiner symptomatischen Bedeutung keinesfalls unterschätzen. Als politisch engagierter Künstler hat sich Henze entschieden artikuliert. Ob „Das Floß der Medusa“ ein gesellschaftskritisch wirklich unmittelbar relevantes Beispiel einer politisch aktivierenden Kunst ist, steht freilich auf einem anderen Blatt. Entschieden problematisch ist Ernst Schnabels Libretto. […]
Nun ist das Schicksal der Umgekommenen wie der Überlebenden sicher dasjenige von Unterdrückten, von den Mächtigen verraten. Von daher lassen sich zweifellos klassenkämpferische und antikolonialistische Impulse ableiten. Doch letztlich dominiert im Libretto der Überlebenskampf gegen die tödlich-feindliche, übermächtige Natur. […] Und der Kampf der auf dem Floß befindlichen gegeneinander entspricht mehr der homo homini lupus-Ideologie als klassenkämpferischer Solidarität. Im aktuellen politischen Sinne vermag der Text Anstoß weder zu liefern noch zu erregen. Hinzu kam bei der Nürnberger Uraufführung, daß der Regisseur Wolfgang Weber und der Bühnenbildner Peter Heyduck es nahezu ängstlich vermieden haben, die Vorlage im konkreteren Zusammenhang zu schärfen. […]
Ausgezeichnete Eindrücke hinterließ die musikalische Seite der Aufführung. Unter Hans Giersters Leitung bewältigten Orchester und Chor der Nürnberger Oper Henzes schwierige, in Mittel und Ansprüchen großformatige, zwischen Cluster-Wildheit und Belcanto pendelnde und gegenüber früheren Werken avanciertere Partitur suggestiv. […]
Gerhard R. Koch, Neue Musikzeitung, XXI. Jg., Nr. 3, Juni/Juli 1972