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Tamara Stefanovich und Pierre-Laurent Aimard proben Stockhausens „Mantra“ für zwei Pianisten und Ringmodulation. Beide Fotos: Astrid Ackermann
Tamara Stefanovich und Pierre-Laurent Aimard proben Stockhausens „Mantra“ für zwei Pianisten und Ringmodulation. Beide Fotos: Astrid Ackermann
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Zeitreise zurück in die Zukunftsmusik

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Eine Hymne auf das Stockhausen-Festival der musica viva
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Am 21. Oktober 2015 wurde die Zukunft von der Vergangenheit eingeholt: An diesem Datum wurde nicht nur jener Tag Gegenwart, an dem Michael J. Fox in „Zurück in die Zukunft“ landete. Eine treffliche Koinzidenz war auch der punktgenaue Start des Stockhausen-Festivals der musica viva des Bayerischen Rundfunks. In München lud der künstlerische Leiter Winrich Hopp das Publikum auf eine klingende Zeitreise zurück in die Zukunftsmusik ein.

Nicht grundlos assoziierten zeitgenössische Kritiker die Musik Karlheinz Stockhausens als „phantastische Sternenmusik“ und vernahmen „kosmische Schwingungen“ sowie „tönende Projektile“ aus einer künftigen Musikepoche, in die der Kölner Visionär avantgardistisch vorauseilte. In der Gunst der dunklen Stunden nach 1945 erkannte der Komponist Chancen für einen kathartischen Neubeginn und den entscheidenden Schritt in die klingende Zukunft: „Die Städte sind radiert – und man kann von Grund auf neu anfangen, ohne Rücksicht auf Ruinen.“

Als „Trümmerfrau“ des musikalischen Wiederaufbaus versuchte sich der junge Stockhausen nicht zuletzt in seinen Klavierstücken I–XI, die Pierre-Laurent Aimard in München nun erstmals als Katalog gleich einem zyklischen Konzeptalbum präsentierte. Bewusst wählte der Komponist für die Neuvermessung der klingenden Landkarte das „die Tugenden der Disziplin, Konzentration, Einfachheit, Subtilität“ repräsentierende Klavier: von den Schwingungen der tiefen Register bis in flirrende Obertonbereiche, vom Punktualismus bis zu seriellen Konstruktionen. Pierre-Laurent Aimard agierte in München als perfekter Mittler der vor rund 60 Jahren vertonten Utopien in der Gegenwart und machte nicht nur hörbar, wie Stockhausen „permanent, radikal und systematisch von Stück zu Stück experimentierte“, sondern setzte auch den in der Münchner Konzertsaaldebatte etwas stiefmütterlich verhandelten Herkulessaal in Szene: als ausgezeichneten Kammermusiksaal von feinster Akustik, und das nicht nur akus­tisch.

Karlheinz Stockhausen war die Welt unplugged nicht genug: Nach der Vermessung des Klaviers folgten Experimente mit nachrichtentechnischen Messgeräten, die der Komponist als ‚deus ex machina‘ der Musik als Material erschloss. In München konnte man mit „Kontakte“ für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug sowie „Mantra“ für zwei Pianisten und Ringmodulatoren frühe Meisterwerke des genialen Musikingenieurs in bestechenden Interpretationen hören. Im Mittelpunkt der musikalischen Zeitreise aber standen die „Hymnen“, die bei der musica viva zu einer punktgenauen Landung zwischen Vergangenheit und Zukunft ansetzten.

„Weltpolitik“, so Winrich Hopp, „lässt Werke reagieren“ – und dies trifft ganz besonders auf die „Hymnen“ zu. Aus der Perspektive eines Kurzwellenempfängers und mit Natio­nalhymnen als musikalisches Material setzte Stockhausen seit 1966 die Dissonanzen der globalisierten Welt in Klang: In seiner utopischen Vision kreuzt sich das hymnische Material zu einem neuen Gebilde, unterbrochen vom medientechnisch generierten Rauschen eines gestörten Weltempfängers. Dass der Komponist die Orchesterversion „Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Zusammengewürfelten“ widmete, hebt das Werk genauso in die verstörende Gegenwart wie die aktuelle Brisanz der zweiten Region: Wenn hier zum Hoffmann-Haydn’schen Deutschlandlied das Horst-Wessel-Lied als „Hymne“ der dunklen Vergangenheit ertönt, die man in Dresden und andernorts nun wieder live hören muss, wird das Werk unter den zeitpolitischen Problemlagen zu einer Diagnose der Gegenwart. Es kommt in den Worten des Komponisten zu einem Moment, „worin Gegenwart, Vergangenheit und Vorvergangenheit gleichzeitig werden.“

Der besondere dramaturgische Wert der „Münchner Hymnen“ bestand in der Vervielfältigung der Ereignisse mittels wiederholter und variierter Aufführung: Auf dem Programm standen sowohl die Version für Elektronische Musik mit Orchester sowie die Fassung für Elektronische und Konkrete Musik. Für die Orchestervariante engagierte Hopp mit Péter Eötvös einen sehr lebendigen Zeitreisenden aus der Entstehungs- und Werkgenese der Komposition. Unter dessen gleichermaßen entspannter wie fast unheimlich präziser Leitung wuchs nicht nur das Symphonieorches­ter des Bayerischen Rundfunks über sich hinaus, auch das Bayerische Landesjugendorchester erprobte die noch immer wie Zukunftsmusik anmutenden Spieltechniken. Dass die jungen Musiker laut Hopp „sofort Feuer und Flamme waren“ ist kein Zufall, denn Stockhausens Musik ist auch „für Publikum, das mit Popmusik großgeworden ist, interessant.“

Dies zeigte sich nicht zuletzt in der late-night-Aufführung der elektronischen Hymnen, zu der sich um 22:00 Uhr nicht nur Stockhausenjünger und Komponistenschrate, sondern auch neugierige Hipster versammelten, um „Papa Techno“ kennenzulernen. Mit bes­ter Studiotechnik sowie überragendem Ohr und besonderer Werkkenntnis regelte die Klangregisseurin Kathinka Pasveer Frequenzen, steuerte Raumbewegungen und schuf so einen akusmatischen Raum, in dem jedes Knistern der schweifenden Klangschnuppen zu hören war. Mehr noch als eine Zeitreise generierte sie einen Trip: einen Rausch von verstörenden Tongemischen, sehr konkreten Hymnenfragmenten, technisch generierten Störgeräuschen und überirdisch schönen Passagen in einem zeitlosem Vakuum. Wenn der Atem des Komponisten die Atmosphäre knistern ließ, hob man ab und war: völlig losgelöst von der Erde.

Einzig die Bestuhlung des Herkulessaals wurde dem hymnischen Trip nicht gerecht, denn die Zuschauerreihen im Parkett verlangen die strenge Haltung des traditionellen Konzertproszeniums mit harten Lehnen, wenig Beinfreiheit und der hierarchischen Ausrichtung gen Bühne – die im Falle der akusmatischen Raummusik leer ist und die Co-Präsens von Interpreten und Hörern unterläuft. Man wünschte sich an dieser Stelle eine weitere Zeitreise ins Jahr 1970 zur Expo in Osaka, wo im legendären Kugelauditorium die Hymnen zigmal aufgeführt wurden: Vor Hörern auf einer schalldurchlässigen Ebene inmitten einer von unzähligen Lautsprechern umspannten Kugel, durch welche die Klänge und das gestörte Rauschen des Weltempfängers gejagt wurden. Ein solches Auditorium wäre ein zukunftweisendes Projekt für einen neuen Konzertsaal in München, doch fand man sich nach dem zweistündigen Klangrausch mit schmerzenden Knien und steifem Nacken in der historisch getünchten Gegenwart der Münchner Residenz wieder.

Zukunftsträchtig im Sinne von nachhaltig war schließlich das Konzept des Stockhausen-Festivals. Während in der Neue-Musik-Szene das Uraufführungsfieber einer aufmerksamkeitsökonomischen Logik grassiert, die das „Erste Mal“ der Musikgenese bei Premieren beschwört, setzt man in München auf Repertoirebildung. Neue Werke müssen nicht nur ihren ersten Schrei tun, sondern auch an Substanz zulegen, und hier leistet die musica viva als strukturstarke, weil an den BR gebundene Institution wertvolle Hebammendienste. Durch hochkarätige Wiederaufführungen trägt sie zur Repertoirebildung und Kanonisierung starker Stücke auf sehr hohem Interpretationsniveau bei. Auch erneuert der BR mit Unterfangen wie dem Stockhausen-Festival den Rundfunkauftrag und gibt ein starkes Zeugnis von der intrinsischen Verbindung des Radios mit der Genese der Neuen Musik, die im Falle Stockhausens besonders eindrücklich zutage tritt.

In der Verbindung von Radiotechnik, institutioneller Unterstützung durch den Rundfunk und mit visionärem Genius leitete Karlheinz Stockhausen die elektronische Ära ein, die längst von einem neuen Medienumbruch abgelöst wurde. Aber auch nach der digitalen Revolution ist die visionäre Kraft seines Werks ungebrochen, das nicht in der Gegenwart Halt macht, sondern noch immer vorneweg flaniert. Der entscheidende Schritt in die Zukunft ist in diesem Fall nur durch einen Schritt zurück in die Vergangenheit möglich.

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