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Musikalische Sozialisation verläuft individuell. Foto: Sabine Lahl

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Narrative und deren Auflösung – zur Zukunft des Musikunterrichts · Von Dorothee Barth und Lars Oberhaus
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Musikunterricht ist gesellschaftlich relevant und bedeutsam für Schüler:innen. Daher muss er auch vor dem Hintergrund verschiedener Herausforderungen (Stundenkürzungen, Lehrkräftemangel, Auswirkungen der Corona-Pandemie) erhalten beziehungsweise wieder ausgebaut werden. Auf Basis dieser Überzeugung haben wir den vorliegenden Beitrag verfasst.

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Auch sind wir einerseits sicher, dass da, wo Musikpädagog:innen die im Folgenden präsentierten Narrative nicht teilen, ein Musikunterricht stattfindet, der gut für das Fach und die Gesellschaft ist, der alle SuS erreicht und ihnen neue, positive musikalische Erfahrungen ermöglicht. Andererseits befürchten wir, dass der Musikunterricht in einer existenziellen Krise steckt und die folgenden acht verbreiteten Narrative daran nicht unschuldig sind. Daher schlagen wir vor, diese nicht weiter zu verbreiten. Zudem möchten wir Musikpädagog:innen darin bestärken, einen Musikunterricht jenseits dieser Narrative zu gestalten.

Krise(n) und Narrative des Musikunterrichts

Die deutschlandweit 2023 durchgeführte Studie zum Musiklehrkräftemangel MULEM-EX, die in einer bislang einzigartigen Forschungskooperation von über hundert Forschenden an mehr als 30 Standorten der Lehrkräftebildung in 71 Studien empirische Daten zu den Ursachen für die Entscheidung gegen das Lehramtsstudium Musik in sehr unterschiedlichen Zielgruppen erhoben hat, konnte sowohl neue Erkenntnisse hervorbringen wie auch alte Ahnungen bestäti­gen (s. Bundesfachgruppe Musikpädagogik 2024). Sie hat unter anderem deutlich gemacht, dass es auch am Musikunterricht selbst liegt, den die Befragten in ihrer eigenen Schulzeit erfahren haben, warum ihr Wunsch, Musiklehrkraft zu werden, trotz ihrer dazu vorhandenen Fähigkeiten, nur sehr schwach ausgeprägt bzw. gar nicht vorhanden ist: Einen Unterricht, wie sie ihn erlebt haben, möchten sie nicht selbst erteilen. Berücksichtigt man übliche Generationenkonflikte, mag das verständlich sein – auch frühere Schulabgänger:innen strebten in Studium, Referendariat und Berufspraxis nach einem reformorientierten Musikunterricht und nach alternativen Inhalten, Methoden, Medien und Zielen. Aktuell aber scheint sich eine gewisse Mut- und Energielosigkeit, ja Resignation auszubreiten, ob sich der Zustand des Musikunterrichts jemals ändern ließe.

Woher kommt dieses Gefühl der scheinbaren Unreformierbarkeit von und das beharrliche Festhalten an tradierten Unterrichtsformen? Warum würden allzu viele Musiklehrkräfte die 50 Jahre alten Musik-Schulhefte eines Bekannten, die ich jüngst bei einer Kellerleerung durchblätterte, als willkommene Hilfe für die Unterrichtsvorbereitung begrüßen? Wir meinen, das liegt nicht daran, dass sich Musikgeschichte und Musiktheorie eben nicht so schnell ändern (wie zuweilen argumentiert wird), sondern daran, dass sich gewisse Überzeugungen, etwa darüber wie Musikgeschichte oder Musiktheorie im Musikunterricht gelehrt werden sollten, eisern halten und tradieren – wider besseren Wissens (und Gewissens).

Diesen Überzeugungen, die wir im Folgenden als Narrative bezeichnen, gehen wir im vorliegendem Beitrag nach. Wir suchen Einstellungen, die sich verfestigt haben und allzu häufig sowohl die Lehrkräftebildung wie auch bildungspolitische Texte oder subjektive Überzeugungen grundieren. Wir beschreiben scheinbare Normalitäten und Selbstverständlichkeiten in Bezug auf einen „guten“ Musikunterricht, wie sie in musikdidaktischen Diskussionen angeführt werden. Dafür bauen wir unsere Argumentation so auf, dass wir den jeweils als zutreffend erkannten Kern eines Narrativs mit der Formulierung „richtig ist“, die unzutreffenden Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, mit „falsch ist“ einleiten. Auch darüber hinaus haben wir eine zuweilen pauschalisierende und normative Darstellung gewählt. Denn durch die Erzeugung neuer Narrative, so die Hoffnung, müssen die alten nicht mehr länger erzählt werden.

Narrativ 1

Um in Deutschland am­ mu­­sik­alisch-kulturellen Leben teilzuhaben, müssen junge Menschen erst einmal die eigene Musikkultur kennenlernen – und das ist die „abendländische“ Kunstmusik.

Richtig ist die Prämisse, dass der Musikunterricht junge Leute zur Gestaltung und Weiterentwicklung des musikalisch-kulturellen Lebens in der Gesellschaft befähigen sollte. Falsch ist die Annahme, dass die „eigene“ musikalische Kultur die „abendländische“ Kunstmusik sei.

Diese ist und war schon immer elitär (vgl. dazu Kaiser, Hermann J. (2002): Die Bedeutung von Musik und musikalischer Bildung, Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik.), sprich: Sie wurde schon immer und wird immer noch von einem nur kleinen Teil der Gesellschaft gespielt und gehört. Versteht man das „eigene“ kollektiv („unsere eigene Kultur“ und „wir“ bezögen sich auf Mitglieder der deutschen Gesellschaft), bevormundet dann eine kleine Minderheit eine große Mehrheit und versucht, den eigenen Musikgeschmack bzw. die eigene musikalische Praxis vorzuschreiben.

Zudem: Einige Menschen, die selbst, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland einwanderten, sind in „abendländischer“ Kunstmusik sozialisiert und schätzen sie; viele aber auch nicht. Angesichts der Tatsache, dass Kitas und Grundschulen – bei großen regionalen Unterschieden – von über 70 Prozent Kindern besucht werden, deren Wurzeln nicht schon immer in Deutschland waren, und dass auch in weiterführenden Schulen diese Zahl steigt, scheint es nicht nur unfair, ungerecht oder rassistisch zu sein, davon auszugehen, die „eigene“ Kultur der jungen Menschen in einem Klassenraum sei die „abendländische“ Kunstmusik, sondern es ist schlicht falsch.

Was eigene Musikkultur(en) ist/sind, kann nur individuell bestimmt werden. Lange Jahre haben zum Beispiel Musikpädagog:innen in einer kollektiven Blase gelebt, die recht gut funktioniert hat. Sie selbst waren in der Regel in der „abendländischen“ Kunstmusik sozialisiert (manchmal kam auch Pop und Jazz dazu), haben mit diesem Schwerpunkt studiert, schrieben Kerncurricula oder Bildungspläne und formulierten die Aufgaben des Zentralabiturs.

Einige wenige der so sozialisierten Schüler:innen wiederum bewarben sich dann für ein Musikstudium und bereiteten sich auf die entsprechend konzipierten Eignungsprüfungen vor. Diese waren eine tatsächliche Hürde und nur die begabtesten oder fleißigsten jungen Menschen wurden zum Studium zugelassen, das wiederum im Schwerpunkt an der Musiktheorie, Musikwissenschaft und im Instrumentalunterricht an der „abendländischen“ Kunstmusik ausgerichtet war. Diese Blase aber ist geplatzt: Weder finden sich hinreichend junge Menschen, die Grund- oder Leistungskurse in Musik wählen, noch finden sich hinreichend Studienbewerber:innen. Auf der anderen Seite gibt es viele begabte junge Musiker:innen, die in anderen musikalischen Praxen (als der ‚abendländischen‘ Kunstmusik) sozialisiert sind, die keinen Zugang zu einem Musikstudium erhalten. So kann das Narrativ 2 durch andere sinnvolle Perspektiven aufgelöst werden: Der Musikunterricht bereitet junge Menschen auf die Teilnahme, Gestaltung und Weiterentwicklung des musikalisch-kulturellen Lebens in all seiner Vielfalt vor, die uns tatsächlich umgibt. Er gewährt Orientierungswissen wie auch exemplarische Vertiefungen im Rahmen von vielfältigen musikalischen Genres und Kulturen (= Praxen). Zudem öffnet er Räume zum Musik-Erleben und zur Reflexion, um begründete Entscheidungen für eigene musikalisch-kulturelle Vorlieben zu treffen (vgl. das Grundsatzpapier Zur Musikalischen Bildung an Schulen (Agenda 2030) vom Bundesverband Musikunterricht (BMU)).

Narrativ 2

Im Musikunterricht sollen Schüler:­innen zu ihnen unbekannter Musik (also auch zur ‚abendländischen‘ klassischen Kunstmusik) einen Zugang erhalten; sie sollen sich dort nicht auch noch mit der Musik beschäftigen, die sie in ihrer Freizeit ohnehin die ganze Zeit hören. 

Richtig ist, dass junge Menschen im Musikunterricht einen Zugang zu ihnen unbekannter Musik erhalten sollen (also z.B. auch zur ‚abendländischen‘ Kunstmusik). Falsch ist die Dichotomie – also der konstruierte Gegensatz zwischen Kunstmusik und Sowieso-schon-Musik –, zu dem es keine Alternative zu geben scheint. 

Mitnichten sind alle Schüler:innen in der Lage, souverän die musikalischen Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind, kritisch zu reflektieren bzw. sich selbstbewusst zu positionieren, Mainstreams zu hinterfragen und zu überschreiten. Es ist also falsch, dass sie sich im Musikunterricht nicht mit der Musik beschäftigen sollten, die sie ohnehin hören. Ganz sicher lernen auch überzeugte Hip-Hop-Hörer:innen dazu, wenn sie sich mit den demokratiebildenden Kräften am Anfang der Hip-Hop-Zeit beschäftigen oder mit weltweiten Adaptionen von Rap-Musik.

Und darüber hinaus: Wenn junge Leute zur Teilnahme und Gestaltung des musikalisch-kulturellen Lebens in der Gesellschaft befähigt werden sollen, stellt sich die Frage, wie dieses Leben denn eigentlich ‚klingt‘? Dazu eine Fantasiereise: Schließen wir einen Moment die Augen und stellen uns die Musiken vor, die gerade in unserer Umgebung erklingen. Was hören wir, wenn alle Alltagsklänge und -geräusche verstummen und nur noch Musik übrigbleibt – live oder im Radio, auf Spotify? In Kirchen, Synagogen und Moscheen? Drinnen, draußen, zufällig oder geplant? Unendlich vielfältig ist das musikalische Leben – im kulturellen Nahraum, in Deutschland, in Europa, weltweit.

Wenn es also das Ziel ist, junge Menschen auf das musikalisch-kulturelle Leben vorzubereiten, auf einen ästhetischen, produktiven, reflektierenden und genießenden Umgang mit Musik, wenn sie neugierig auf und offen für unbekannte Musiken sein sollen, wenn sie verschiedene Musiken in ihr Leben lassen und sich ‚mutig‘ an verschiedene Veranstaltungsorte begeben sollen, dann muss der Musikunterricht stilistisch vielfältig(er) werden.

Narrativ 3

Schüler:innen benötigen theoretisches Rüstzeug (v.a. Musiktheorie), mit dem sie Musik analysieren und dann auch besser verstehen können.

Richtig ist, dass Musiktheorie dazu dienen kann, musikalische Eindrücke zu konkretisieren. Komplexität und Vielschichtigkeit von Musik können fachkundig beschrieben oder systematisiert werden. Falsch ist, Musiktheorie auf eine Formenlehre zu reduzieren, die im Unterricht der Klassifikation und Abfragbarkeit dient. Falsch ist folglich auch, wenn Musiktheorie (Elementare Musiklehre in der Unterstufe, Formenlehre in der Mittelstufe) unverbunden und ohne Bezug zur jeweiligen musikalischen Praxis vermittelt wird. Im Zentrum stehen dann nämlich mathematisch ableitbare Regeln und Merksätze, die auch mit Rechenschiebern gelernt werden können. Diese unverbundene Theorie aber wird gerne unterrichtet, da sie abfragbar bzw. ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sein kann. Die dem außerdem zu Grunde liegende Hoffnung, dass eine Lerngruppe diese am Modell erworbenen Grundlagen später zur Werk-Analyse anwenden kann, erweist sich in der Regel als trügerisch – ebenso wie die Vorstellung, dass Elementare Musiklehre eine Kulturtechnik sei, die für die gesamte Musikwelt gelte. Umgekehrt sollten sich musiktheoretische Fragestellungen stets aus der spezifischen Musikpraxis selbst (und ihrer kulturgeschichtlichen Einordnung) ergeben.

Narrativ 4

Guter Musikunterricht muss praktisch sein (Klassenmusizieren). 

Richtig ist die Annahme, dass musikalische Praxis, verstanden als instrumentale oder vokale (und auch körperliche) Tätigkeit, einen wichtigen Bestandteil des Unterrichts ausmacht und somit guten Musikunterricht mitbegründet. Falsch ist die Annahme, dass musikalische Praxis als Klassenmusizieren per se guter Musikunterricht ist.

Anstatt die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis als dualistisch ausgerichtetes Verständnis von Musikunterricht zu kultivieren, sollten im Musikunterricht vielfältige sinnliche Eindrücke (ästhetische Erfahrungen) thematisieren werden. Theorie und Praxis sollten daher eine Einheit bilden, um im Kontext von Musiziervorgängen auch historisch-kulturelle oder ästhetische Hintergründe zur Musik zu erfahren. Das Klassenmusizieren lässt sich daher als eine eigene Form der kritisch-reflexiven und produktiven Auseinandersetzung mit Musik verstehen, in der z.B. auch kulturelle Kontexte nicht unbedacht adaptiert werden (auch mit Blick auf das Stichwort „Kulturelle Aneignung“).

Narrativ 5

Musikunterricht soll (nicht nur) Spaß machen, es muss auch etwas gelernt werden. Hinter diesem Narrativ stecken Annahmen darüber, was gelernt, aber vor allem auch wie gelernt werden kann und soll

Richtig ist, dass im Musikunterricht gelernt werden soll. Falsch ist, dass Lernen keinen Spaß macht – im Gegenteil. Spaß machen und vertieftes und nachhaltiges Lernen stellen keinen Gegensatz dar; denn Spaß machen als Schüleräußerung bedeutet nicht, dass der Unterricht besonders lustig ist. Es bedeutet auch nicht, dass man die ganze Zeit Musikvideos beliebter Popstars schaut. Was bedeutet es, wenn jemand sagt, dass der Unterricht (oder ein Seminar oder ein Vortrag) Spaß machen soll? Wenn Spaß als Antagonist von Langeweile aufgefasst wird, wäre es nur allzu verständlich, dass Menschen nicht gelangweilt werden wollen.

In der Studie von Frauke Heß ‚Musikunterricht aus Schülersicht‘ (MASS) (vgl. Heß, 2011a und Heß 2011b) oder in Untersuchungen zum musikalischen Selbstkonzept von Maria Spychiger (2017) lassen sich weitere Antworten finden. Beide Wissenschaftlerinnen haben umfangreiche quantitative Abfragen durchgeführt und um qualitativ geführte Gruppen- und Einzelinterviews ergänzt. In 543 Statements taucht an 100 Stellen das Wort ‚Spaß‘ auf; Spaß scheint also ein wichtiger Aspekt zu sein.

Ausgehend davon, dass Musikhören die liebste Freizeitbeschäftigung der 12- bis 25-Jährigen ist, konstatieren Hess und Spychiger eine große Kluft zwischen Sach- und Fachinteresse. SuS wünschen sich einen hohen Gebrauchswert für ihre musikbezogene Alltagspraxis. In diesem Sinne macht ein Unterricht Spaß, wenn er sinnvoll oder hilfreich jugendliche Alltagspraxen in Unterrichtspraxen überführt. Dies sind gleichzeitig wichtige Bedingungen für ein vertieftes und nachhaltiges Lernen. Ich lerne, wenn das Thema, der Inhalt oder besser noch: die Frage oder die Problematik Bedeutung für mein Leben hat und wenn ich es als sinnvoll empfinde, mich damit zu beschäftigen.

Narrativ 6

Wenn viel Stoff durchzunehmen ist, geht das am schnellsten im Lehrervortrag. 

Richtig ist, dass ein Lehrervortrag manchmal sinnvoller sein kann als etwa das sogenannte fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, vor allem wenn es um die Präsentation von „Fakten“ geht, die ebenso gut nachgeschlagen werden können. Richtig ist auch, dass eine Lehrkraft Kompetenzen erworben haben sollte, mit denen sie einen Vortrag gründlich vorbereiten und gestalten kann. Falsch ist die Vorstellung, dass durch den Lehrervortrag viel Stoff bewältigt werden kann; ein vertieftes und nachhaltiges Lernen findet vor allem dann statt, wenn es problemorientiert ist und an komplexen Fragestellungen stattfindet (vgl. z.B. Dreßler 2024). Zudem entspricht eine kleinteilige Stoffvermittlung weder dem Interesse noch dem Niveau von jungen Menschen und wird auch rasch wieder vergessen.

Lehrkräfte sind weder Alleinunterhalter noch sollten sie im Schwerpunkt abrufbares Wissen vermitteln und abfragen; wenn Themen des Musikunterrichtes selbstständig oder in Gruppen bearbeiten werden, ändert sich auch ihre Rolle. Selbstbestimmt können die SuS ihre Lernfortschritte in verschiedenen Formen selbsttätigen Lernens dokumentieren, die entsprechend bewertet werden (Lerntagebücher, Referate, Präsentationen, Unterrichtsbausteine auf IPads etc.). Dies funktioniert besonders gut, wenn SuS im Projektunterricht über mehrere Wochen an einer für sie relevanten Fragestellung differenziert arbeiten: etwa im musikbezogenen Aufgreifen außermusikalischer Themen (Krieg und Frieden, Liebe, Streit) oder wenn in größer angelegten Projekten jene Interdisziplinarität stattfinden kann, die sowohl in den Künsten selbst als auch in der wirklichen Welt vorhanden ist – zum Beispiel in Kompositionsprojekten zum Thema Musik und Klimawandel oder zur Frage von Heimat (vgl. Barth & Oberhaus 2024).

Narrativ 7

Zentrale Inhalte des Musikunterrichts sowie die dort zu erwerbenden Kompetenzen werden im Studium, im Referendariat und in der Berufsbiografie exemplarisch sowie im Überblick erprobt und vertieft. Folglich sind Lehrkräfte in der Lage, die zentralen Lernfelder des Musikunterrichts kompetent zu unterrichten. 

Richtig ist, dass die drei Phasen in der Professionalisierung von Lehrkräften aufeinander aufbauen und viele mögliche Inhalte des Musikunterrichts dort thematisiert und erprobt werden sollten.

Falsch aber ist zum einen die Vorstellung, dass die Themen und Inhalte des Musikunterrichts in den Curricula festgeschrieben sind und die Studierenden in der Uni oder im Referendariat darauf vorbereitet werden, sie entsprechend zu vermitteln. Falsch ist zum anderen die Vorstellung, die Lehrkräfte wären quasi Allrounder mit Superkräften und wären in sämtlichen Lernbereichen gleichmäßig kompetent – von musikbezogenen Tätigkeiten (Dirigieren, Singen, Instrumentalspiel, Tanzen und Reflexion) in sämtlichen musikalischen Stilen, Genres und Kulturen über wissenschaftliche Kenntnisse in den Musikwissenschaften, der Musikpsychologie und -soziologie bis hin zur theoretischen Begründung und Anwendung sämtlicher musikdidaktischer Konzeptionen. Vielmehr zeigen Erfahrung und Empirie, dass Musikstudierende wie auch Lehrkräfte unterschiedliche musikalische Schwerpunkte haben und dass vor allem das praktische Wissen (wie man was unterrichtet) zu einem großen Teil in individuellen biografischen Erfahrungen erworben wird.

Kompetenzen (zukünftiger) Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen stehen in Bezug zu einem wünschenswerten Zielzustand (z.B. festgelegter Kompetenzerwerb in Curricula), die in der Lehrkräftebildung angestrebt werden. Unklar ist aber, wie genau in den verschiedenen Phasen und auf welche Weise diese als Ziel der Lehrkräftebildung postulierten professionellen Kompetenzen tatsächlich erworben werden.

Insbesondere der Stellenwert nonformaler Bildungsprozesse, eigener biografischer Erfahrungen, musikalischer Sozialisationen und daran gebundener subjective beliefs prägen das Handeln von Lehrkräften. Daher hat Anne Niessen bereits 2006 darauf aufmerksam gemacht, dass es sinnvoll wäre, „schon in der Ausbildung einen bewussten Umgang mit dem eigenen biographischen Hintergrund einzuüben“ (Niessen 2006). Zugleich zeigen jüngere Forschungen rund um Praxissemester, dass die im Studium erworbenen theoretischen Kenntnisse für bestimmte musikalische Überzeugungen und Haltungen in der späteren Berufspraxis eher sekundär sind.

Ebenso gibt es viele Studierende mit hoher Expertise in bestimmten Bereichen (z.B. beim Einsatz digitaler Medien), die wenig im Studium thematisiert werden, aber dann doch für die Schultätigkeit relevant sein können. Für die Ausbildung von Lehrkräften ist es daher wichtig, die Ambivalenz zwischen biographischer Expertise und Sozialisation auf der einen Seite und Forderungen nach vielseitigen Kompetenzen und inhaltlicher Breite anzunehmen. Selbstbewusst sollten sie die eigenen Schwerpunkte stark machen, aber ebenso offen für Neues bleiben und eigene Lernbiographien kritisch (auch im Hinblick auf deren didaktische Eignung) reflektieren. An dieser Stelle soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass für diese lebenslangen Lernprozesse zeitliche und damit auch finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden müssen.

Narrativ 8

Der Musikunterricht muss im Bemühen um Gerechtigkeit und Chancengleichheit heterogene Fähigkeiten und Voraussetzungen ausgleichen. Deshalb sollten sich alle SuS durch eine Kanonisierung wesentlicher Lieder und Werke in Form einer Zentralisierung der Lerninhalte in den einzelnen Jahrgangsstufen bis hin zum Zentralabitur mit den gleichen Themen beschäftigen. 

Richtig ist, dass in kaum einem anderen Fach die Fähigkeiten und Voraussetzungen der SuS extrem heterogen sind, was das Unterrichten erschwert. Richtig ist auch, dass es in der Schule gerecht zugehen sollte und alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben haben sollten. Falsch aber ist, dass Kanonisierung und Zentralisierung dazu die rechten Hebel sind.

Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsichten divers; und egal, ob zur Systematisierung dieser Vielseitigkeit unterschiedliche Kategorien gebildet werden (Geschlecht, Herkunft, Weltanschauung, Alter, soziale und kulturelle Zugehörigkeit) oder einfach davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch anders ist, kann und muss der Musikunterricht eine Möglichkeit bieten, auf die vielfältigen Voraussetzungen, Fähigkeiten und Vorlieben einzugehen, sie wertzuschätzen und weiterzuentwickeln.

Warum sollten Schüler:innen, die gern tanzen, Darbuka spielen oder eigene Songs produzieren, ‚auf den gleichen Stand gebracht‘ werden, indem sie Intervallnamen und Tonleitern pauken, um dann in den Partituren die Themen nicht finden zu können, die die Lehrkraft ihnen zu suchen aufgibt. Die Vielfalt und Diversität, die zum Glück unser Musikleben auszeichnen, sollten auch den Musikunterricht prägen.

Wie oben angedeutet, ist es nicht unsere Absicht, Missstände anzuklagen. Vielmehr bleibt es ein Anliegen, hoffnungsvoll Perspektiven anzudeuten, wie sich festgefahrene Muster, die das musikpädagogische Leben lähmen und beschweren, auf Dauer auflösen können.

Dazu wäre es hilfreich, wenn alle drei Phasen der Lehrkräftebildung sowie natürlich die Lehrkräfte selbst in einen intensiven Diskurs träten, um gemeinsam mit bildungspolitischen Akteur:innen die Wege weiter auszubauen, die bereits jetzt positive Signale senden. Denn als ästhetisches Fach kann der Musikunterricht andere Zugangsweisen für die Themen unserer Zeit eröffnen, wie zum Beispiel Glück und Selbstwirksamkeit ermöglichen. Dafür aber muss er sich stärker an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Lehrenden und Lernenden orientieren.

Anmerkungen

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag auf der Netzwerktagung Musik zur Thematik „Dialog mit dem KMK über Zukunftsvorstellungen des Faches Musik“, die 2023 in Hannover stattfand; zum Netzwerk gehören Musiklehrkräfte, die an unterschiedlichen Gymnasien in Niedersachsen arbeiten und teilweise zusätzlich Funktionsträger sind, wie zum Beispiel Fachkonferenzleiter:innen, Fachleiter:innen, Fachberater:innen oder Fachmoderator:innen. Daher richtet sich der Beitrag tendenziell eher an das Gymnasium, auch wenn die Narrative grundlegend sind.

Text

Literatur

Barth, Dorothee & Oberhaus, Lars (2024): Klangheimat(en) als Utopien?! Klangkompositionen als Spiegel gesellschaftlicher Herausforderungen. In: C. Rora & A. Niegot & J.P. Koch (Hg.): Utopie – Musik – Bildung. Musikpädagogik im Diskurs Band 6, S. 61–76.

Bundesfachgruppe Musikpädagogik (2024) (Hg.): MULEM-EX: Musiklehrkräftemangel – eine explorative Studie. Hintergründe und Gründe für sinkende Zahlen in den Studiengängen für das Lehramt Musik. Eine Initiative der AG Schulmusik der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM) www.musikrat.de/fileadmin-/redaktion/download/Mulem-EX-31-05-2024-Einzelseiten.pdf

Dreßler, Susanne (Hg.) (2024): Zwischen Irritation und Erkenntnis. Zum Problemlösen im Fachunterricht. Münster: Waxmann

Heß, Frauke unter Mitarbeit von Maria Muth & Annekatrin Inder (2011a): Musikunterricht zwischen Sach- und Fachinteresse Ergebnisse aus der Pilotstudie Musikunterricht aus Schülersicht, in: Beiträge empirischer Musikpädagogik (b:em) 2/1; S. 1–26 https://bem.journals.qucosa.de/bem/article/view/44/102

Heß, Frauke (2011b): Spiel, Spaß und Spannung oder: Was Jugendliche vom Musikunterricht erwarten, in: Diskussion Musikpädagogik Sonderheft 3/11, S. 34–40.

Kaiser, Hermann J. (2002): Die Bedeutung von Musik und musikalischer Bildung, Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik. https://journals.ub.uni-koeln.de/index.php/zfkm/article/view/2092/2250 

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