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Drei Personen in schwarzen Ganzkörperanzügen werkeln an Instrumenten und Lichtbändern herum. Die Bühne (mit rotem Boden) ist mit einzelnen Spots ausgeleuchtet.

Mit Ganzkörperanzügen, audiovisuellen Instrumenten und Illuminationen performt das Trio beim OPEN SPACE den „External Operator“. Foto:  Felix König, Agentur 54Grad

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OPEN SPACE

Untertitel
Possehl-Preis für aktuelle musikalische Aufführungskonzepte
Vorspann / Teaser

Bei einem Konzert in Echtzeit finden direkte Dialoge statt: die Akteure auf der Bühne kommunizieren untereinander und mit dem Publikum. Auf der Bühne entstehen Formen und Interaktionen im Rahmen systemisch definierter intermedialer Gesetzmäßigkeiten und vollziehen sich in Kommunikation zwischen Akteuren und aktivem Material. Zur Förderung der Entwicklung und Realisation von Werken zeitgenössischer Musik an der Musikhochschule in Lübeck (MHL) findet seit 2019 im Turnus von zwei Jahren der Wettbewerb „OPEN SPACE“ für aktuelle musikalische Aufführungskonzepte statt.

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Forum für Zeitgenössische Formen
Durch die großzügige Förderung der Possehl-Stiftung ist die MHL seit 1962 in der glücklichen Lage, jährlich den hochschulinternen Possehl-Wettbewerb für Exzellenz von Kammermusikensembles und Solisten auszuloben. Seit 2019 konnte der „OPEN SPACE“ als eigenständiger Wettbewerb etabliert werden. 

Mit dem Ziel, zeitgemäß auf technisch erweiterte Möglichkeiten zu reagieren und zugleich Bedürfnissen nach davon abgeleiteter Bühnenpräsenz entgegenzukommen, ist „OPEN SPACE ein Forum für Experimente zeitgenössischer Klang- und Medienkunst geworden. Die Intentionen erklärt Prof. Dr. Bernd Redmann, MHL-Präsident und Jury-Vorsitzender:

Es ist uns wichtig, dass Studierende Erfahrungen damit gewinnen, künstlerische Projekte zu erdenken, in Teamarbeit zu entwickeln und umzusetzen. Wir wollen die Realisation auch ungewöhnlicher und teils aufwändiger Konzeptionen ermöglichen. Deshalb ist in der Jury ein sehr breites fachliches Spektrum repräsentiert: von der zeitgenössischen instrumentalen Komposition über die elektronische Musik und transdisziplinäre und transmediale Kunstformen bis hin zur wissenschaftlichen Perspektive.

Demnach war die Wettbewerbs-Jury 2025 wieder renommiert besetzt: Prof. Inge-Susann Römhild (Possehl-Stiftung), Annette Schlünz (Vorsitzende des MHL-Hochschulrates und Komponistin), Gerfried Stocker (Intendant des Ars Electronica Festivals Linz), Prof. Ludger Brümmer (Staatliche Hochschule für Musik Trossingen), Prof. Dr. Katharina Rosenberger (Haute école de musique de Genève), Prof. Miriam Akkermann (FU Berlin), Prof. Sascha Lino Lemke und Prof. Nicola L. Hein (beide MHL).

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Ein Mann von unklarem Alter, kurzen schwarzen Haaren, leichtem Bartwuchs und einer großen Halbrunden roten Brille. Er steht vor einem grauen Hintergrund und schaut neutral in die Kamera.

Nicola Leonard Hein. Foto: Manuel Miethe

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Über Nicola L. Hein

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Multimedia Soundexperte

Nicola L. Hein, in Düsseldorf 1988 geboren, ist Klangkünstler, Gitarrist, Komponist und Forscher im Bereich Musikästhetik und Kybernetik. Er ist Professor für Sound Arts und Creative Music Technology und künstlerischer Leiter des Studios für elektronische Musik an der MHL. In seiner künstlerischen Arbeit verwendet er physische und elektronische Erweiterungen von Synthesizern und E-Gitarre, Klanginstallationen mit Motoren/Videoprojektionen/Licht, kybernetische Mensch-Maschine-Interaktion mit interaktiven A. I.-Musiksystemen, Augmented Reality, telematische Kunst, ambisonische Klangprojektion, Instrumentenbau, konzeptionelle Kompositionen. Seine Werke wurden international in mehr als 30 Ländern realisiert. Seine künstlerische Arbeit ist in über 30 Veröffentlichungen dokumentiert und wurde mit vielen verschiedenen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Er hat unter anderem mit Max Eastly, Evan Parker, Miya Masaoka, Axel Dörner und Ute Wassermann zusammengearbeitet. Auftritte beim MaerzMusik Festival (Berlin), Ars Electronica (Linz), Moers Festival, A L’ARME! FESTIVAL (Berlin), Super Deluxe (Tokio), Sonica Festival (Glasgow), u. v. m. 
https://nicolahein.com

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Künstlerische Originalität und Qualität
Bei der „OPEN SPACE“-Vorbereitung sind „formale Kriterien wie der Anteil zeitgenössischer Musik (mindestens 50 Prozent) im jeweiligen Programm sowie ästhetische Offenheit zu berücksichtigen“, erklären Nicola L. Hein, Professor für Sound Arts und Creative Music Technology, und Sascha Lino Lemke, Professor für Musiktheorie. Nicola L. Hein hat die inhaltliche und technische Entwicklung der Stücke sowie Proben und Installation, Sascha Lino Lemke, Dr. Marisol Jimenez (Vertretungsprofessorin für Komposition) und Peter Veale (Leiter Neue Musik) haben die Arbeiten und Proben inhaltlich betreut. Entscheidend sind „künstlerische Originalität und Qualität, die in ein Verhältnis zu gegenwärtigen Strömungen und Diskursen zeitgenössischer Musik gesetzt werden. Eine offene Beschreibung der Kriterien mit dem Vergleich der Stärken und Schwächen jedes Projektes ist dabei ausdrücklich im Sinne des Wettbewerbs“. „OPEN SPACE“ habe sich substanziell bewährt und die MHL so verändert, dass diese Erfahrungen auch Außenwirkungen haben. Eingereicht und bewertet wurden dieses Jahr: „An der Grenze stehen“ für Live-Elektronik von der Komponistin Goeun Kim; „Room 0901“ für Violine, Elektronik, Schlagzeug und Tanz“ vom Ensemble The Vacuumcleaners; „Zirkus Bottesini“ für Klarinette, Kontrabass und Video vom Duo Kollektieph; „Bellies are hungry, the mouths don’t feed“, eine audiovisuelle Performance der Komponistin Parnaz Soltani plus Saxofon-Trio und die Performance „External Operator“.    

Ausgezeichnete Performance: External Operator
Den ersten Preis erhielt die Komposition „External Operator“. Hier griffen klangkünstlerische Gestaltung auf selbstgebauten elektronischen Instrumenten, Visualität und szenische Aktion besonders überzeugend ineinander. Die Idee, dass die drei Akteure ihre Klänge gegenseitig beeinflussen und kontrollieren können, entfaltete in ihrer multimedialen Umsetzung eine besondere Poesie und Eindringlichkeit, so die Begründung der Jury. Auf der Bühne schemenhaft zu sehen und mit avancierten Klängen zu hören sind drei durch dunkle, den ganzen Körper und Kopf bedeckende Kostüme anonymisierte Personen. Ihre Aktionen mit den audiovisuellen Instrumenten, die blitzartig und flackernd illuminieren, bilden ein mit Feedbacks zwischen den Instrumenten verbundenes kybernetisches System, das sich mit der Frage der Muttersprache als “External Operator” performativ befasst.

Das Gesamtkunstwerk fordert dabei die Aufmerksamkeit des Publikums, ohne Kompromisse für dessen Hör- und Sehgewohnheiten einzugehen. „External Operator“ basiert auf einer Idee des Komponisten Ilia Viazov, die in kollektiv entwickelter Dramaturgie verwirklicht wurde. Das kompositorische Prinzip ist generativ: das Trio entwickelt seine  Performance in Echtzeit aus der Choreographie, den für dieses Stück eigens entwickelten audiovisuellen Feedbackinstrumenten, der Kontrolle des Feedbacks, und ganz zentral durch Interaktion. Durch RAVE-Algorithmen wird „machine learning“ eingebracht, um die Klänge der Instrumente durch Latent Spaces unterschiedlicher Sprachen zu filtern und hybride Sprach-Instrumental-Klänge zu erzeugen.

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Drei junge Musiker:innen in scherzhafter Pose auf einer Treppe: Percussionistin Paulina Andrzejak hält in einer Hand mehrere Schlägel und in der anderen einen Bogen dessen Spitze sie auf Ilia Viazovs Brust hält. Er liegt auf einer Stufe unter ihr. Diego Castillo ist sitzend an die Wand daneben gewichen.

Das Preisträger:innen-Trio aus Paulina Andrzejak, Ilia Viazov und Diego Alejandro Morales Castillo (v. l. n. r.). Foto: Maximilian Busch

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Über die drei Preisträger:innen

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Intermediale Kommunikation

Das transnationale Trio erforscht seit 2024 in Lübeck Klangräume zwischen elektronischer Musik, Avantgarde und Performance. Persönliche Narrative und interdisziplinäre Ansätze prägen ihre Arbeiten. Sie wurden an der MHL mit dem ersten Preis beim Open Space-Wettbewerb der Possehl-Stiftung 2025 ausgezeichnet. Ilia Viazov, geboren in Voronezh (Russland) 1999, studierte zunächst Fagott unter anderem an der Gnessin-Schule und später Komposition und Elektroakustik am Konservatorium Moskau. Er hat seine Heimat wegen des Krieges mit der Ukraine verlassen und setzt seit Oktober 2024 sein Studium an der MHL fort.

Paulina Andrzejak ist seit 2023 festangestellte Schlagzeugerin der Pommerschen Philharmonie in Bydgoszcz (Polen). Als Orchestermusikerin trat sie u. a. mit dem Internationalen LutosÅ‚awski Jugendorchester und den Berliner Philharmonikern auf. Aufgrund eines Deutschlandstipendiums absolviert sie jetzt ein Aufbau-Studium an der MHL. Diego Alejandro Morales Castillo, geboren in Nicaragua 1998, studiert seit April 2023 Komposition mit Schwerpunkt elektronische Musik bei Dr. Marisol Jiménez und Prof. Nicola Leonard Hein an der MHL. Er hat an verschiedenen Audioinstallationen gearbeitet und beschäftigt sich mit instrumentaler und elektronischer Komposition.

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Was es mit dem „External Operator“ auf sich hat, erzählen Paulina Andrzejak (Polen), Ilia Viazov (Russland) und Diego Alejandro Morales Castillo (Nicaragua). Ihre Motivation, am „OPEN SPACE“ teilzunehmen, bezeichnen sie als „Neugier, etwas total Neues im Unterschied zu konventioneller Orchestermusik zu machen“ (Paulina), „eine Gelegenheit, mit Unterstützung von Lehrenden kompositorisch kreativ zu werden“ (Ilia) und „als Anfänger in puncto Komposition erste Erfahrungen auf professionellem Niveau zu erwerben“ (Diego). Ähnlich ist bei allen Dreien die kommunikative Situation, als internationale Studierende im Alltag nicht ihre Muttersprache als Hauptkommunikationsmittel nutzen zu können. Ilia Viazov hat sich dadurch von seiner russischen Muttersprache so entfremdet, dass sich eine kontrollierende Instanz in kommunikative Prozesse einschaltet.

Paulina Andrzejak charakterisiert das Phänomen: „Wenn ich jetzt etwas auf Polnisch erklären will, verliere ich die Präzision, die ich in der Vergangenheit hatte. Manchmal kann ich bestimmte Wörter nur auf Englisch oder Deutsch denken, aber nicht auf Polnisch.“ Dieses psychologische Phänomen unsicherer Sprachverwendung wird im Aufführungskonzept zum External Operator, dessen Bühnen-Rolle Diego A. M. Castillo übernommen hat: „Ilia und Paulina hatten nicht die komplette Kontrolle über ihre Instrumente, sondern ich habe mich da eingemischt. Auch habe ich Licht- und andere Effekte gesteuert, wiederum von der KI beeinflusst. Wir konnten die Energie des Publikums auf der Bühne spüren. Was wir bieten, kann man zu Hause per CD oder DVD nicht erleben“, beschreibt Diego A. M. Castillo seine Eindrücke.

Das Trio hat nun die verbindliche Einladung bekommen, seine Perfomance „External Operator“ im September 2025 beim Ars Electronica Festival Linz (Österreich) aufzuführen. Über die Auszeichnung beim „OPEN SPACE“-Wettbewerb hinaus ein beachtlicher Erfolg. Die zeitgenössische und elektronische Musik an der MHL kann somit auch ihr Potenzial für internationale Resonanz unter Beweis stellen.

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