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Es geht hier nicht um Milosevic. Und es kann an dieser Stelle auch nicht um eine Einschätzung der Entwicklung im Kosovo-Konflikt gehen. Wohl aber kann man in einer Musikzeitung darüber nachdenken, wie schnell Werte, die sich kulturelle Auseinandersetzung gerne auf die Fahnen schreibt, in diesen Zeiten geopfert werden. „Kunst soll nicht schön, sondern wahr sein", hat Schönberg einmal überspitzend formuliert – und er meinte damit den Vorrang der Aussage, des emphatischen Wahrheitanspruchs eines Werks über Aspekte des Gefälligen, des Angenehmen. Das Wort Wahrheit aber schreibt die Berichterstattung über den Krieg auf beiden Seiten klein. Milosevic lügt so plump, wenn er sagt, es gäbe im Kosovo keine Vertreibung, daß ihm auf Anhieb keiner glaubt. Aber damit haben wir das Recht der Wahrheit noch längst nicht auf unserer Seite, schon gleich nicht auf der Seite der NATO.
Wer zum Beispiel den Anhang zum Vertrag (auch dieser Begriff ist im Grunde schon eine Lüge, denn es handelt sich um ein Diktat) von Rambouillet liest, der so lange von unseren Hütern der militärischen Moral verschwiegen wurde, der weiß, daß keineswegs alle erdenklichen Schritte zur Friedenserhaltung unternommen wurden – denn kein Staatsmann der Welt, ob verbrecherisch oder nicht, hätte einer fremden Militärmacht so viel Rechte im eigenen Land eingeräumt. Heute dürfen wir den Vertrag lesen, weil der Krieg längst neue Bedingungen diktiert und in automatisierter Eigengesetzlichkeit abläuft. Gleichwohl erröten manche Verantwortliche doch leicht und murmeln davon, daß man da halt alles und jedes hineingeschrieben hätte, Maximalforderungen also, die noch verhandelbar gewesen wären. Eigentlich müßte sich die ganze europäische NATO ob des fortwährenden Gebeutelt-Werdens in Sachen Aufklärung und Wahrheit wie ein in die Ecke gestelltes Kind vorkommen – und man weist dumm-verschämt auf hier fehlende Aufklärungsapparate. Hat nur der, der Es ist wie in jedem Krieg: keiner Seite ist zu trauen. Das Schlimme aber ist, daß in großem Schulterschluß alle NATO-Länder behaupten, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Jedes kritische Wort – das längst keine Parteinahme für Milosevics Politik bedeutet – wird beinahe als landesverräterisch verteufelt. Gegen den "Dämon Milosevic" werden selbst Lügen zum einzig Wahren. Hat nicht unsere Kultur, jedenfalls die ernst zu nehmende, immer wieder versucht, den Geist zu sensibilisieren, ihn als abwägenden zu entwickeln? Hat sie nicht versucht, die rohe Gewalt aus dem Umgang unter Menschen zu verbannen? Darin ist sie jedenfalls schon wieder einmal gescheitert. Das massenmediale Bewußtsein erweist sich als willig biegsames. Kunst und Kultur bleiben als vereinsamte Warner außen vor. – Übrigens verlautete aus dem Kreis um Clinton, als jüngst zwei rechtsradikale US-Schüler ein Dutzcnd Schüler und einen Lehrer niedermähten, daß man die Jugend lehren sollte, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Das vielleicht ehrlich Gemeinte erweist sich angesichts der Großereignisse schon wieder als Lüge.