Hauptbild
Bis in 17 Jahren: Axl Rose. Foto: Promo
Bis in 17 Jahren: Axl Rose. Foto: Promo
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Siebzehn – Warten auf Axl , doch der Kreis bleibt offen

Autor
Publikationsdatum
Body

Ich war 19. Guns N' Roses hatten eben das Doppelalbum „Use your Illusion I & II“ veröffentlicht und befanden sich 1992 auf einer der größten Rocktourneen, die das Business bis dato gesehen hatte. Rock nahe am Urknall: Girls, Gitarren, Alkohol, Drogen, Skandale, Exzesse, Verschwendungssucht, Schlägereien. Und mittendrin Musik. Brillant arrangiert. Große Gesten. Aufgeregtheit. Wichtigkeit. Status. Auftritte mit Brian May. Auftritte mit U2. Guns N' Roses waren die Stones meiner Generation.

Endlich war da eine Band, die uns gab, was wir wollten. Und brauchten. Was wir nur aus Erzählungen kannten. Oder aus nostalgisch gefärbten Reportagen der damals überschaubaren Musikzeitschriften. Wenig Halbwüchsige, die nicht wie Axl W. Rose sein wollten. Abgefuckt. Zerstörerisch. Sexy. Die Band war am Höhepunkt. Helmut Kohl aber immer noch Bundeskanzler. Der VfB Stuttgart wurde Deutscher Fußballmeister. Mobiltelefone waren unbekannt.

In dieser Zeit bedeuteten diese Alben sicher nicht alles. Aber in meinem Dunstkreis sehr viel. Schulabschlüsse standen bevor. Lebensweichen mussten gestellt werden. Vieles deutete auf Abschied hin. Von Freunden. Mit Freunden. Eine sensible Vergänglichkeit der Jugend war spürbar. Und in diesen Zeiten, frei vom Digitalismus, durfte Musik noch Begleitmusik zum Leben sein. Emotion und Pathos waren keine Schimpfwörter. Für Songs wie „Yesterday“, „November Rain“, „14 Years“ oder „Don’t cry“ würde man Guns N' Roses heute steinigen. In den Neunzigern durfte man das veröffentlichen. Ungestraft.

Und obwohl man der Band alles abkaufte – die Skandale, die Coolness und die Attitüde – bedurfte es doch noch eines letzten Funkens Vergewisserung, das Gehörte selbst vor Augen zu sehen. Würzburg war eine Station der „Use your Illusion“-Tournee. Der 20. Juni 1992. Ein eingebranntes Datum. Zu jeder Zeit abrufbar. Im Golf II, mit Bruder und drei Schulfreunden aber nur drei Eintrittskarten ging es auf die A3. Die Eltern nervös. Sie hatten von Guns N' Roses gehört. Dieser „scheußlichen“ Band. Und dann der Bruder, absolut minderjährig, mit dabei. Unter 45.000 Open-Air Besuchern. Die Kameraden leeren bis Nürnberg das erste Sixpack, das damals schlicht Dosenbier hieß. Die Stimmung ist gut. Die Erwartungen groß. Nervosität, die sich in häufiger Nicht – Kommunikation ausdrückt. Das zweite Sixpack ist Nervenberuhigung. Stau bei Würzburg.

Aber trotzdem. Nach fünf Stunden Anfahrt – ohne Navigationssystem, dafür mit großräumiger Ausschilderungen von der Autobahn weg und durch Würzburg hindurch – spazieren wir Richtung Festivalgelände. Die fehlenden Eintrittskarten kauften wir vorher noch einem der unzähligen Geschäftsmänner am Straßenrand ab: 52 DM! Das Konzert wurde auf einen kleinen Flughafen verlegt. Am Schenkenturm. Nur nach einem gepflegten Aufstieg zu erreichen. Eingekeilt in und nach vorne geschoben von Zehntausende Rockfans, deren schwitzende Körper bei 30 Grad im Menschen-Knäuel den Aufstieg zum Rock-Everest zu einer unauslöschlichen Kraftprobe machen.

Wir ziehen fasziniert an einem vollständig zerlegten Kartenvorverkaufshäuschen vorbei. Über Megaphon wurde zuvor verkündet, dass noch circa 100 Karten erhältlich wären. Freilich der jämmerliche Exitus der Holzbude. Auf dem weiteren Weg nach oben rasten Alkohol-Leichen. In Büschen. Unter Bäumen. An Zäunen der zu durchquerenden Wohnsiedlung wie Ikonen verankert und ausgestellt. Bezeugen mag es keiner der Gefährten mehr. Doch heute, wissend, dass das autobiographische Andenken alles emporhebt und Einbildungen erzeugt, glauben wir während des Aufstiegs unzählige Liebespaare „en detail“ hinter uns gelassen zu haben. Derweil suchen Nüchterne wie Aasgeier die Alkohol-Kadaver nach Karten ab. Bierdunst stülpt sich wie eine Käseglocke über die Menschenlava. Und noch heute, wenn ich einen der Mitfahrer treffe, bleibt unser diese Besteigung für allzeit in Erinnerung. Es war der hart verdiente Prolog eines bevorstehenden Gipfelpunktes, der sich noch als großes Drama, als Hommage an Woodstock und eine neue Generation des Rockfans entwickeln sollte.

Am Gelände angekommen, erschlägt uns die Unbegreiflichkeit der Bühne. Für die beginnenden Neunziger ein Spektakel: 65 Meter Breite, 25 Meter Tiefe und 25 Meter Höhe. Drei Tage Aufbauzeit (drei komplette Bühnen und Anlagen rotierten in Europa). Zudem drei Videoleinwänden (seitlich und bühnenmittig). Die Unterschiede zum Scorpions-Konzert in der Regensburger Donauhalle zeigten sich schnell. Langsam glitt der Tag in Richtung Film. Getrübt von der sich verbreitenden Nachricht, dass an den Hunderten Getränkeständen nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt werde. Trotzdem gleicht die Stimmung einem brodelnden, gleich berstenden Jahrmarkt. Auch weil Popcorn verkauft wird. Zuckerwatte, Grillware und T-Shirts. Und Frauen in einer Freizügigkeit unterwegs sind, die wir so – aufgewachsen in der Provinz – nicht für möglich hielten.

Nach langer Wartezeit scheint sich auf der Bühne etwas zu bewegen. Die erste Vorband möchte loslegen. Ein Name, der heute auf der Zunge zergeht: Soundgarden mit Ausnahmesänger Chris Cornell, der mittlerweile einen James Bond Titelsong schreiben durfte. Damals machte er Grunge. Kam in Würzburg leider überhaupt nicht an. Tonprobleme erschweren den Auftritt. Die Band wird vom wütenden und unbarmherzigen Publikum regelrecht von der Bühne gepfiffen. Aus nach wenigen Songs. Vorband Nummer Zwei ergeht es nicht besser. Obwohl eine damalige Größe: Faith No More mit Sänger Mike Patton. Ebenfalls kein Schlechter. Doch desgleichen von der Bühne gehetzt.

Die Gänsehaut nun Zentimeter dick, starren wir auf die Umbaupause. Lässige, langhaarige und Furcht erregende Bühnenarbeiter bereiten das Hochamt vor. Jack Daniels Flaschen werden auf der Bühne verteilt. Zigaretten mit Tesastreifen an Verstärkern befestigt. Erste Soundcheck Töne. Die Aufgeregtheit des Publikums köchelt. Geräusche dringen gedämpft in den Gehörgang. Als hätte man Wasser im Ohr. Es konnte keinen besseren Tag im Leben geben.

Bis das Inferno begann. So genau kann sich niemand mehr an den exakten Zeitpunkt erinnern. Viele glauben, es bahnte sich noch während des ersten Songs an. Die ersten Akkorde zu „Mr. Brownstone“ setzen ein. Axl Rose betrat als letzter die Bühne. Absolvierte die Bühnenlänge von 65 Meter in gefühlten fünf Sekunden Sprints von einer Seite auf die andere. Seine Stimme glasklar. Schneidig. Markzerfetzend. Und plötzlich brach ein bis dahin nie gesehenes Unwetter über Würzburg herein, das an Wucht und Kraft bis heute unvergleichlich bleibt. Donner, Blitz und Sintflut fallen gleichzeitig über die 45.000 Besucher her. Es dauert sechs oder sieben Sekunden bis die Unterhose vom Wasser verschluckt wird. Bis sich Tümpel auf dem Rasen des Geländes bilden. Noch sehe ich die Band gleichgültig weiterspielen. Immerhin sind 250.000 Watt Strom am Start. Und während mir langsam klar wird, dass in den nächsten Minuten ein Traum zerplatzen wird, schließlich sind diese Wetterbedingungen für Guns N’ Roses unwürdig, blende ich mich aus und denke während der letzten Augenblicke des Auftaktsongs an die vergangenen zwei Wochen zurück.

Ich sehe mich in meinem Zimmer sitzen. Um mich herum die Platten „Appetite for Destruction, Lies, Use your Illusion I & II“. Ich lerne nicht nur die Texte auswendig. Ich lerne Neues über Musik. Nehme neue Perspektiven wahr. Denke über die Liveumsetzung mancher Songs nach. Interpretiere und übersetze Texte. Vergleiche sie mit meiner Situation. Ziehe Parallelen. Oder konstatiere mir Tristesse, Bürgerlichkeit, ja sogar Langweiligkeit. Nehme mir vor das zu ändern. Stelle mir Fragen. Zu den Songs. Wo könnte die Band „Mitsingteile“ einbauen? Wann kommt welches Solo? Welcher Song beginnt mit Intro? Wo und warum gibt es einen Rhythmus-Wechsel? Und stelle fest, dass mich Musik fasziniert. Dass Musik Reaktionen erzeugt. Nachdenken erlaubt. Auch weil ich mich damit beschäftigen kann. Und muss. Song für Song. Ohne sie am CD-Player, eine 1992 erst begrenzt vorhandene Technik, überspringen zu können. Mir wird klar, dass diese zwei Wochen mein musikalisches Interesse stark prägen. Und Zukunftsweichen stellen. Die Eltern klopfen genervt an der Tür. „Knockin’ on Heaven’s Door“ läuft zum Hundertsten Mal. Bob Dylans Gassenhauer mimt das Überbrückungskabel zweier Generationen. Ich drehe nicht leiser. Und stoße trotzdem auf wortloses Verständnis.

Als ich zurückkehre nach Würzburg, vor die Bühne, bin ich überrascht. Zumindest einen zweiten Song gewährt die Band im Wetterdrama. Wenigstens etwas. Nach vier oder fünf Songs verdichten sich die Anzeichen, dass Regen und Gewitter nie enden wollen, die Band dagegen auf jeden Fall weiterspielt. Und tatsächlich. Sie ziehen das komplette Konzert durch. Kein Ausraster von Axl. Keine Drohungen gegenüber Gott oder anderen höheren Instanzen die Bühne zu verlassen. Erst als der aufziehenden Nebel nach zwei Stunden Konzert (und ein paar gnädigen Minuten mehr) darauf hinweist der Waschküche den Rücken zu drehen, hört es auf zu regnen und die Band auf zu spielen. Es ist vorbei. Wahrscheinlich für immer. Denn dass die Band auseinander brechen wird, war schon 1992 eine absehbare Folge. War’s das? Kommt noch was? Zumindest keine weitere Tournee. Und kein Album. Bis zum 21. November 2008.

„Chinese Democracy“ erscheint. Guns N' Roses sind nur noch Axl W. Rose und ein paar bezahlte Musiker. Ich ein freier Textschreiber im Sektor Musik. Der aber diese Beschäftigung, wahrscheinlich sogar Leidenschaft, durchaus ursprünglich mit Guns N' Roses verknüpfen kann. 35 Jahre alt, knapp 17 Jahre später, sitze in meinem Wohnzimmer. Halte „Chinese Democracy“ als CD in Händen. Denke zurück. An 1992. Die Neunziger. Und lege die CD ein. Nicht so laut wie damals. Neben mir spielt mein elfmonatiger Sohn. Schiebt Gegenstände durch die Gegend. Wirft CDs und Bücher aus den Regalen. Wartet auf mahnende, aber diesmal ausbleibende Worte. Grinst herausfordernd. Im Hintergrund laufen die Songs der neuen Guns N' Roses. Ich erkenne Axl. Es ist seine Handschrift. Die Gitarren pfeifen, die Keyboards gleichen einem Tortenboden. Stämmig, fest und trotzdem beissbar. Seine Stimme scheint an Gefahrenstellen elektronisch gepimpt, trotzdem bleibt sie ein Stigmata. Mein Sohn wackelt dezent den Oberkörper zu „Better“ und „Street of Dreams“.

Unberührt stelle ich fest, dass 17 Jahre gar nicht so lange sind. Man muss sich nur zu beschäftigen wissen. Und obwohl ich 17 Jahre darauf gewartet habe mit diesem Album etwas zu schließen, zu beenden oder irgendwo anzukommen, verhält es sich doch anders. Es geht nicht darum anzukommen. Es geht darum weiterzugehen. Axl hat das vorgemacht. Was bedeutet schon Zeit? Und wenn ich noch einmal 17 Jahre warten muss. Der Weg war schön. Und bestimmt nicht weniger hart als Axl’s Weg. Musik hat keine Zeit. Dafür Bedeutung. Das wurde mir mit „Chinese Democracy“ nach wenigen Stunden und nach Jahren der musikalischen Sinnfrage in der Casting-Dekade klar. Vielleicht kann man das seinen Kindern mitgeben. Dass Zeit so richtig nicht existiert. Sondern nur der Weg mit der Zeit. Ja. Das werde ich versuchen. Bis in 17 Jahren, Axl.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!