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Wird der Vogel Simorq abgeschossen?

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www.beckmesser.de 2011/07
Publikationsdatum
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Jede Kultur hat ihre Mythen und Erzählungen, die zur Identitätsbildung der Völker beigetragen haben. Indien hat das Mahabharata, Griechenland die Gesänge des Homer, Italien die Divina Commedia, die Deutschen die Nibelungen-Sage, das moderne Brasilien den Macunaima. Und die persische Kultur hat das Shahnameh, das 60.000 Verse umfassende Nationalepos des Dichters Ferdowsi, der vor rund tausend Jahren lebte.

Es beschreibt eine mythische Zeit von der Erschaffung der Welt bis in Ferdowsis Gegenwart und handelt vor allem von den Heldengeschichten der Dynastien aus vorislamischer Zeit. Dazu gehört die Geschichte vom ­Königssohn Zal, der mit weißen Haaren auf die Welt kommt und deswegen von seinem Vater verstoßen wird. Der mythische Vogel Simorq zieht den Säugling auf, und später verliebt sich Zal in Rudabeh, die Tochter eines feindlichen Königs. Eine zauberhafte Erzählung, die natürlich ein Happy End nimmt. „Diese Sage ist einer der schönsten und zugleich strukturell kompliziertesten Teile Schahnamehs, in dem Ferdowsi Liebe, Hass, Glück, Schicksal, Ruf, Verruf und insbesondere die ewige Sehnsucht des Menschen nach dem Unerreichbaren gleichermaßen in Szene setzt.“

Der Satz, und damit springen wir von der poetischen Kunst in die prosaische Gegenwart, steht in der Beschreibung des Musiktheaterprojekts „Simorq“, das diese Episode auf die Bühne bringt. Die Initiatoren sind Iraner, die teils in Europa, teils in ihrer Heimat leben, der Komponist, Hamid Motebassem, arbeitet vorwiegend in den Niederlanden. Sein ambitioniertes Werk steht beispielhaft für eine ­aktuelle Tendenz in der iranischen Musik, traditionelle Musizierformen mit neuen, auch europäisch beeinflussten Kompositionsverfahren zu verbinden. Von den bärtigen Aufpassern im Iran wird das mit Misstrauen beobachtet. Doch nun gibt es auch in Deutschland Schwierigkeiten. Geplant war die Premiere für diesen Oktober beim West Östlicher Diwan Festival in Weimar, und plötzlich fehlt das Geld. Die Bundeskulturstiftung und andere Stellen, die sich den kulturellen Austausch auf die Fahnen geschrieben haben, geben sich bedeckt. Von politischen Gründen redet natürlich niemand.

Doch offenbar stellt auch ein Projekt, das sich mit vorislamischen Traditionen in einem islamischen Land befasst, ein Politikum dar. Die Zurückhaltung auf deutscher Seite ist verständlich, aber politisch nicht zielführend. Die starrsinnigen Ayatollahs, die eines der klügsten Völker des Orients im Zustand der Unmündigkeit halten, müssen lernen, dass die Abschottung gegenüber dem bösen Westen nur die kulturelle Selbstkastration befördert. Das Simorq-Projekt öffnet in dieser Stagnation eine schöpferische Perspektive, und deshalb, liebe Kulturförderer, braucht es unsere Unterstützung. Nur so kann kultureller Dialog funktionieren.

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