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Die Passionsspiele Erl 2025. Foto: © Xiomara Bender

Die Passionsspiele Erl 2025. Foto: © Xiomara Bender

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Asexuelle Polyamorie und Thriller-Sounds: Die Passionsspiele Erl 2025

Vorspann / Teaser

In jedem Spielzyklus der alle sechs Jahre stattfindenden und 1613 erstmals erwähnten Passionsspiele Erl gelangt eine neue Textfassung zur Aufführung, dieses Jahr von dem Tiroler Theatermann Martin Leutgeb und dem für Film, Oper, Schlager bestens qualifizierten Burgenländer Erfolgskomponisten Christian Kolonovits. Ca. 650 Einwohner*innen der längst international bekannten und als Festspielort unter der künstlerischen Leitung von Jonas Kaufmann stehenden Tiroler Gemeinde agieren auf der Bühne im 1963 eröffneten Passionsspielhaus. Die zweite Vorstellung am 31. Mai war die Premiere der Besetzung „Schwarz“.

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Sie tanzen und feiern, aber die Euphorie der Jesus-Gemeinschaft ist nur von kurzer Dauer. Ein lebhaft glühender Optimismus springt sogar nach Jesus’ brutaler Kreuzigung dessen Hinterbliebenen aus den Augen – vor allem seiner Mutter Maria. Während des Gangs des Messias und „Königs der Juden“ zum Richtplatz, das schwere Kreuz auf seinem gekrümmten Rücken – intoniert Maria das im Lukas-Evangelium vor Jesus’ Geburt stehende Magnificat. Das ist eine der spannenden wie dramatisch sinnfälligen Freiheiten in den, von Ende Mai bis Anfang Oktober an allen Wochenenden aufgeführten, Erler Passionsspielen 2025. Deren Titel lautet in direkter Verwendung eines Evangelien-Zitates: „Der Weg, die Wahrheit und das Leben“.

Dieses Jahr kann man das mit einer knappen Pause von 25 Minuten auf über dreieinhalb Stunden kommende Totaltheater und Gesamtkunstwerk mit Recht und Respekt als ‚Spirituelles Melodram‘ bezeichnen. Der riesige Chor der Passionsspiele, auch das hinter den von Neon umrandeten, variabel schwebenden Projektionsflächen sitzende Orchester unter der musikalischen Leitung von Anton Pfisterer und die vielen stummen Mitwirkenden versteht Christian Kolonovits so in begeisterten Bann zu schlagen wie das Publikum im zu jeder Vorstellung gut gefüllten Passionsspielhaus. Einzig die arg süßliche Schlussmusik zur Auferstehung stellt die zuvor als stabiles Kolorit entwickelte Differenzierung von Text, Bühne und Komposition etwas infrage. Da scheint eine gesuchte oder zufällige Nähe zum – zugegebenermaßen übermächtigen – Vorbild von Andrew Lloyd Webbers Rockoper „Jesus Christ Superstar“ spürbar.

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Die Passionsspiele Erl 2025. Foto: © Xiomara Bender

Die Passionsspiele Erl 2025. Foto: © Xiomara Bender

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Die maßvolle Aktualisierung Martin Leutgebs erweist sich als vollauf gelungen und verständlich auch für weniger bibelfestes Publikum. Die Positionen der dogmatischen Splittergruppen von Leviten, Sadduzäern und Pharisäern arbeitete Leutgeb deutlich heraus. Wie in Oberammergau erfolgte auch in Erl während der letzten Jahrzehnte die nachhaltige Reinigung von allen nach 1900 aus den Texten lesbaren antisemitischen Akzenten über die zugeschriebene Schuld der Juden am Kreuztod Jesus’. Dafür implantierte Leutgeb in seine dramatische Konzentration eine Auswahl von Evangelien-Zitaten und evozierte so für die sich spaltende Gesellschaft eine essenzielle Frage: Kann man nur nach genauem Faktencheck verstehen oder genügt ein prägnant ins Herz dringender Satz aus direkter Menschlichkeit? Unaufdringlich spiegeln sich in den dargestellten Politikern Judäas, dem römischen Statthalter Pilatus, den opponierenden Kindern und der bis zur Gefangennahme Jesus’ mit sonnigem Gemüt auftretenden Jüngerschaft die gegenwärtigen Tendenzen von Polarisierung und gewaltbereiter Erbosung. Dadurch wird die Erler Passion durchaus moralische Anstalt und Spiegel der Welt – mit Ansätzen von Inntaler Dialekt und der Kunstsprache von Tiroler Volksschauspielen.

Auch in der ersten Wiederholung und damit zur Premiere der Besetzung „Schwarz“ vollziehen sich die letzten Tage Jesus’ im Betonportal des Passionspielhauses und auf den über 40 Stufen von Hartmut Schörghofers imposanter weißer Treppe mit genderkorrektur Stringenz und Jungschen Archetypen. Juliane Herold gestaltete dazu farbklare Stoffwürfe aus intrigantem Gelb für die Hebräer, Sandfarben für die Jesus-Anhänger und Taubenblau für die römischen Legionäre. Maria Magdalena hat die Metamorphose von der ehrbaren Dirne, einer katholischen Lieblingsphantasie mehrerer Jahrhunderte, zu emanzipierter Fraulichkeit hinter sich. Hier tritt sie als wortkarg Liebende und Sponsorin der Clique des Wanderpredigers Jesus auf. Damit ermöglicht Maria Magdalena der kurzlebigen Sozialgemeinschaft mit dem Ideal von asexueller Polyamorie die wirtschaftliche Unabhängigkeit. 

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Die Passionsspiele Erl 2025. Foto: © Xiomara Bender

Die Passionsspiele Erl 2025. Foto: © Xiomara Bender

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Auch in Erl gerät die Massenszene mit Jesus’ Auspeitschung zum Volkszorn mit orgiastischer Wildheit. Die Kreuzigung danach ereignet sich dagegen mit einer drastische Brutalität meidenden Diskretion. Das Orchester schweigt auch zum schwarzhumorigen Eklat der offenen Ehe von Herodes und Herodias mit aus Abgründen schwelenden Lastern, Lüsten und Wunden. Es ist auch die höchst energetische Kraft von Pathos, Anspruch, Effekt und Zugänglichkeit, welche im Passionsspieljahr 2025 erfreulich gut aufgeht.

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