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LASH von Rebecca Saunders, Premiere am 25. Juni 2025 in der Deutschen Oper Berlin. © Marcus Lieberenz

LASH von Rebecca Saunders, Premiere am 25. Juni 2025 in der Deutschen Oper Berlin. © Marcus Lieberenz

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Aus der Stimme erfunden. „LASH“ von Rebecca Saunders an der Deutschen Oper Berlin

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Mit ihrer dreiaktigen Oper „LASH“ hat die britische, in Berlin lebende Komponistin Rebecca Saunders (*1967) sich erstmals den Weg auf die große Bühne gebahnt. Das ungewöhnliche Werk, Frucht eines rund dreijährigen Arbeitsprozesses, wurde am vergangenen Freitag an der Deutschen Oper Berlin mit einem fantastischen Ensemble und dem hauseigenen Orchester unter Leitung von Enno Poppe zur Uraufführung gebracht.

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„A woman is suspended in the immediate aftermath of a death. She recounts fantasies and memories of love and loss and fucking and sickness, kissing, eyeballs, genitals, fingertips, lips, and lashes – each scoured for consoling significance to hold back death’s meaninglessness. Through the imminence of her own body, her own mortality, she rediscovers loss as the precondition of experience – of love.“

Die Sätze, mit denen Rebecca Saunders im Vorwort zur Partitur das Sujet ihrer ersten Oper „LASH – Acts of Love“ umschreibt, verweisen auf die Besonderheit der Werkkonzeption: Obgleich das Werk für die Opernbühne konzipiert ist, erzählt die Komponistin darin keine konkret deutbare Geschichte, sondern lokalisiert das Geschehen in einem eigentümlichen, über die Wahrnehmung von Körperlichkeit definierten Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Ausgangspunkt hierfür ist das gemeinsam mit dem Schriftsteller Ed Attkins erarbeitete Libretto, dessen Sprachgestalten diesen Zustand in Gestalt poetischer Abstraktionen von existenziellen Zuständen aufbewahren. Literarisch geformt als durchgehender Bewusstseinsstrom, wird hier die subjektive Innensicht einer Person ausgebreitet, die sich – wie schon der Werktitel selbst (als „Wimper“, „Peitsche“ oder „Peitschenhieb“, aber auch mit den Verben „anbinden“ oder „auspeitschen“ übersetzbar) – kaleidoskopartig in sprachliche Vieldeutigkeiten hinein verzweigt. Aus diesem Strom werden anschließend Sprachpartikel extrahiert, die sich, auf vier Protagonistinnen verteilt, als unterschiedliche Facetten einer einzigen Person wahrnehmen lassen. Sie bringen jenes in permanentem Wandel befindliche Wechselspiel von Identitäten und Kommunikationsversuchen in Gang, aus dem heraus die Komponistin das musikalisch-theatrale Geschehen entfaltet.

Aus Körper und Stimme

Tatsächlich hat Saunders die Musik aus der Sprache und den damit verknüpften körperlichen Ausdrucksformen entwickelt, wobei die intensive Zusammenarbeit mit den vier außergewöhnlichen Vokalistinnen – die Sängerinnen Anna Prohaska, Sarah Maria Sun, Noa Frenkel sowie die Schauspielerin Katja Kolm – zur Einarbeitung von Eigenarten der jeweiligen Stimmcharaktere geführt hat. Und so ist denn zu Beginn des Stückes die Geburt der Musik aus dem Körper und der Stimme, aus den Abstufungen des Sprechens und Singens zu erleben: Der physische Akt des Hervorbringens von Klang durch die Stimmwerkzeuge wird zum Impuls, aus dem Saunders schrittweise expressive Möglichkeiten entfaltet, um anschließend, von der beeindruckenden Stimmkunst jeder einzelnen Vokalistin getragen, gestische Momente zu melodischen Gestalten zu fügen und diese auf den instrumentalen Apparat übergreifen zu lassen. Das groß besetzte Orchester, klangfarblich durch Akkordeon, E-Gitarre, zwei Korg BX3-Orgeln und ein stark erweitertes Arsenal an Perkussionsinstrumenten für mindestens neun Ausführende angereichert, dient hierbei als Dialogpartner und Resonanzraum für die variantenreichen Stimmaktionen: Immer wieder färben die vokalen Linien auf die Instrumente ab, werden von diesen umspielt, in organisch anwachsende und wieder in sich zusammensinkende Cluster eingebettet oder in Resonanzphänomene von wechselnder harmonischer Dichte überführt.

Die solchermaßen in den Vordergrund tretende instrumentale Ausleuchtung von Sprache und Gesang ist beim Dirigenten Enno Poppe in den besten Händen: Er leitet das Orchester zur plastischen Gestaltung der feinen, vielfach abgestuften, polyphon verwobenen Klangspuren an und modelliert die Musik in den rein instrumentalen Phasen zu skulpturartig aufgetürmten, in ihrer Erscheinungsweise jedoch nie aufdringlich, sondern immer flexibel bleibenden Klangkomplexen. Ergebnis all dessen ist ein knapp zweistündiger Ereignisverlauf, dessen drei unterbrechungslos aufeinanderfolgende Akte – mit „Love“, „Mute“ und „Loss“ als Stationen einer inneren Reise markiert –, sich wie musikalische Zustandsveränderungen in Richtung auf ein zunehmend immersiver werdendes Opernerlebnis wahrnehmen lassen: Während im ersten Akt eine Art akustisches Netz entfaltet wird, in das sich die Vokalistinnen einfügen, vollzieht sich im zweiten Akt eine Verdichtung und Ausweitung des Klanggeschehens, die im dritten Akt in eine Spazialisation des Klangs durch Verteilung von Ausführenden um das Auditorium herum mündet.

Hypothetische Erinnerungssplitter und installative Momente

Es blieb dem Regieteam von Dead Centre – den Regisseuren Bush Moukarzel und Ben Kidd – vorbehalten, das uneindeutige Sujet der Oper unter Rückgriff auf die in der Partitur verstreuten szenischen Anweisungen und mit tatkräftiger Unterstützung des Videodesigners Sébastien Dupouey, der Bühnen- und Kostümbildnerin Nina Wetzel, des Lichtdesigners Jörg Schuchardt und des Dramaturgen Sebastian Hanusa in eine konsistente Bühnenrealisierung umzuwandeln. Die Entscheidung für eine Orientierung an der Arbeitsweise der Komponistin lieferte hierzu die Grundlage: Ähnlich wie Saunders aus den Sprachklängen musikalisch-gestische Bausteine gewinnt und zu Gestalten formt, tastet Dead Centre die Körper der Vokalistinnen im Close-Up mit Kameras ab und macht Haut, Wimpern, Augen, Falten oder Haare zu Partikeln einer beständig sich wandelnden visuellen Schicht – einer Schicht, die, verstärkt durch Vervielfältigungen, Spiegelungen und Fragmentierungen auf Leinwänden und Projektionsflächen unterschiedlichster Beschaffenheit, sowohl auf der Makroebene entfaltet wird als auch in die Körper selbst einzudringen scheint und das unter der Haut liegende mikroskopische Detail ans Licht bringt.

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LASH von Rebecca Saunders, Premiere am 25. Juni 2025 in der Deutschen Oper Berlin. © Marcus Lieberenz

LASH von Rebecca Saunders, Premiere am 25. Juni 2025 in der Deutschen Oper Berlin. © Marcus Lieberenz

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All dies wird, vom behutsamen Agieren der Solistinnen zwischen häufig wechselnden Bühnenaufbauten gestützt, zu einem assoziativen Bilderbogen aus hypothetischen Erinnerungssplittern verdichtet. Auf diese Weise ergeben sich vielfältige Assoziations- und Interpretationsangebote für das Publikum, die jedoch nie auf bestimmte Bedeutungen festgelegt bleiben. Dass das Geschehen bei alldem mehrfach in geradezu installativen Anordnungen einrastet und mit einem hinter den Projektionen stattfindenden Dialog zweier Konzertflügel und den ihnen zugeordneten Sängerinnen (Sun und Prohaska) im dritten Akt einen konzentrierten Höhepunkt erreicht, erweist sich keinesfalls als Manko des Regiekonzepts von Dead Centre, sondern als konsequentes und produktives Durchdenken theatraler Möglichkeitshorizonte.

Subjektzentrierte Perspektive

So fesselnd die Aufführung ist, kann sie allerdings nicht verdecken, dass Saunders’ abstraktes Werkkonzept einen gewissen Preis hat: Die Musik bleibt trotz – oder gerade wegen – ihrer zunehmend immersiven Wirkung durchweg jener subjektzentrierten Perspektive verhaftet, die in unserer heutigen Gesellschaft für zunehmende Irritationen und Konflikte sorgt. Stärker als alle Werke zuvor zeugt „LASH“ daher vom Bemühen der Komponistin, sich möglicher politischer Implikationen zugunsten eines Rückzugs in die Innenschau zu entziehen. Daraus resultiert ein ästhetischer Diskurs, der zwar die Gegenwärtigkeit des Körperlichen thematisiert und als Teilhabe an Zeitgenossenschaft erkundet, darüber hinaus aber keinen Weg zu brennenden gesellschaftlichen Fragestellungen findet. Und auch die Regie bleibt davon seltsam unberührt und passt sich Saunders’ Tendenz zur subjektiven Perspektivierung an, ohne auch nur den Versuch zu wagen, die Grenzen des Aufführungsraums zu überschreiten und sich der Welt jenseits des Opernhauses zuzuwenden.

• Weitere Aufführungen am 27. Juni sowie am 1., 11. und 18. Juli 2025.

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