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Foto: Signe Fuglesteg Luksengard
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Braver Parcours: „Memorial of Rebellion“ beim Festival „Passion :SPIEL“ in Weimar

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Ein „Paralleluniversum von besonderen Stücken, Experimenten und Aufführungen“ versprechen Weimars Operndirektorin Andrea Moses und ihr Konzeptdramaturg Michael Höppner für Passion :SPIEL. Die erste Ausgabe des Festivals für Neues Musiktheater findet vom 10. bis zum 19. März 2022 im e-werk Weimar auf der versatilen Raumbühne Martin Miotks statt.

Brigitta Muntendorfs und Höppners „Memorial of Rebellion“ sowie der Doppelabend mit Luciano Berios „Recital for Cathy“ in der von Andrea Moses aus dem Krankenstand mittels Zoom finalisierten Inszenierung und Julia Lwowskis mundgerecht Musiktheaterséance „Norma“ geraten nicht ganz neu, dafür gewinnend burlesk und effektvoll. Einhellige Begeisterung an der Konkurrenz-Schnittstelle des Deutschen Nationaltheaters zum Kunstfest Weimar.

Wenn man den Fokus des Neuen nicht ganz so eng fasst, diesen auf die drei letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückdehnt und sich mit bewährten anti-heteronormativen, anti-patriarchalen und – leider derzeit extrem wichtigen – antimilitaristischen Theaterzeichen ein bisschen auskennt, kann man im e-werk Weimar viel Spaß, einige Betroffenheitsmomente und reichlich Gedankenfutter bekommen.

Aus Sebastian Hannaks Raumbühne „Heterotopia“ in der Oper Halle vor einigen Jahren folgt um die Rohre und Metalltrommeln im Weimarer e-werk Martin Miotks Raumbühne. Der stellt zwei Screens mit Verdopplungseffekten für die Videos des Duos Warped Type bereit, setzt schwarz lackierte korinthische Säulen für Anknüpfungspunkte großer Vergangenheit und – bekanntermaßen ist Miotk der Comic-Magier unter den jüngeren Kunst-Dekorateuren – er ironisiert. Wie der Opferstock an der Kirchenpforte steht bei Miotk am Eingang ein strammer Hygienesprühspender nebst chromglänzender Handspülschale. Perfekt, sauber und einstimmend aufs zum Allgemeinzustand werdende Ungewöhnliche.

Am spannendsten zum ersten „Passion :SPIEL“-Wochenende geriet „Memorial of Rebellion“ von Brigitta Muntendorf und Michael Höppner – krisenzentrifugierend und deshalb in der verschlankten neuen Form als Installation wahrscheinlich bestechender denn als Musiktheater. Dieses erlitt nach ersten Vorstellungen im Onassis Cultural Center Athen zum Frühjahr 2020 den Lockdown-Interruptus und wurde im zweiten Anlauf für die Gastspielorte aus 15 Musiknummern auf 20 Minuten verkürzt. Das ist eine der beiden parallel entstehenden Installationen Miotks, der am Premierentag in München für den nachgeschobenen Biennale-Zyklus 2020 die Metamorphose von Ole Hübners und Thomas Köcks „Opera, Opera, Opera! Revenants and revolutions“ vom Opern-Dreistünder zum Parcours zurichten durfte.

Jeweils zwei Personen werden im 15-Minuten-Abstand mit Kopfhörern zum „Memorial of Rebellion“ eingelassen. Zum Höhepunkt gerät, wenn diese gegenseitig auf sich und die Screens mit identischen Bildfolgen starren dürfen. Auf diesen tanzen Wesen in discobunten Latex-Overalls und bleischweren Rüsselmasken an Marionettenfäden. Die Wesen besudeln sich mit transparentem Gallert. Dieses Sperma der Rebellion fließt in rauen Mengen, aber zäher Langsamkeit. Sprüche transpirieren dazu an den Wänden: „Ist die Erde hohl“, „22 G – I'M Used“, „Stories Archive“.

Es geht um geistige, körperliche, seelische Formen von Rebellion und deren Wahrnehmung als ästhetisches Konstrukt. Die Rausschmeißer-Message lautet: Bei der nächsten Rebellion bist du nicht dabei, denn die richtet sich gegen dich. Alles haben Michael Höppner und Brigitta Muntendorfs soziologisch trefflich beobachtet und dramaturgisch geschichtet: Die Rebell:innen von gestern sind – zumindest in den Zivilgesellschaften – die Buh-Personen von heute und morgen. Es reihen sich Evergreen-Worte wie „Powerlessness“, „New World“ und so weiter. Nicht nur Sounddesign aus der Headset-Konserve gibt es, sondern sogar interaktive Live-Musik, sofern sich die anwesenden Publikumssolitäre das Mitsingen trauen. Der „Winterreise“-Schubert darf es sein: Aus „Fremd bin ich eingezogen“ werden Verse wie „Tragt, Nichts zu sein, nicht länger / Strömt, Alles werdend, zuhauf!“ – Aus dem Urbild von Innerlichkeit, die falsch verstanden in den Faschismus treiben konnte, entsteht ein feines Massenlied nach alt-sozialistischer Bauart.

Rebellion als drängerischer Schall mit analytischem Rauch.

Sehr diskussionswürdig auch, welches Musikmaterialien Muntendorf für rebellisches Gedanken- und Agitationsganalysen geeignet hält: Drums klopfen in dunkler Dehnung. Darüber dialogisieren Stimmen im E-Rap-Modus, bannen sich in Hirnströme und Gedankenwindungen. Rebellion als drängerischer Schall mit analytischem Rauch. Aber Miotks Raumbühne macht Lust auf Club und Partisanenpartys, in der Pandemie-Fastenzeit zumal.

Wer auf Ansage auf seinem grünen Zettelchen brav aufschreibt, welche Rebellionen sie/er im Leben versäumt, nicht angezettelt oder vermasselt hat, darf dieses am Ausgang in einen Wahlkasten stecken und damit wahrscheinlich als anonyme:r Kreative:r beim nächsten Projekt Einfluss nehmen. Einen Super-Selbstentscheidungsschub setzt die Installation – anders als das Musiktheater für passives Publikum – vielleicht unabsichtlich voraus: „Die Gedanken sind frei“. Den zwei für 20 Minuten zusammengeschmiedeten Besuchenden steht deshalb auch frei, ob sie sich wirklich nach Aufforderung setzen oder nicht lieber doch woanders hindackeln. Weil es um Rebellion als ästhetischen Akt in politischer Bemäntelung geht – oder umgekehrt – könnte man seinen Ideenzettel auch als Papierflieger in Miotks Spielraum steigen lassen und damit seine eigene rebellische Mini-Perfomance als „Passion :SPIEL“ in Szene setzen. Muntendorf & Höppner nennen ihr installatives Denkangebot „Memorial of Rebellion“. Sie definieren demzufolge Rebellion als Phänomen der Vergangenheit. Ob sie als Publikum geduldige Besuchende oder rebellische Zeitzeugen haben wollen, verraten sie nicht. Hoffentlich letzteres. Die Musik dazu steht, raunt und brummt wie ein Dekorationselement – starr, instrumentalisiert und als emotionale Kategorie defragmentiert. Für das neue Festival Passion :SPIEL wird das hoffentlich ein Einstieg mit Streitlust, Streitkultur und Rebellentum im Sinne der Veranstaltenden. Denn es könnte recht schnell flau werden, wenn Machende und Publikum sich derart einig sind, weil es nur Norm-Festivalstandpunkt gibt und man deshalb gar nicht mehr diskutieren muss. Dann ginge es mit dem Neuen Musiktheater in Weimar wie mit Muntendorfs und Höppners Begriff von Rebellion. In der Gegenwartskultur wären aber echte Stachel besser als gutgemeinte Wattestäbchen. 

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