Ach Oper! All diese Tode und Morde! Von hinreißender, herzerwärmender oder zumindest anrührender Musik durchzogen oder übergossen – meist Sinnenrauschgift! Doch im Opernhaus am Main erwies sich ein Werk von um 1900 als künstlerisch unausweichliche Lehrstunde zu Demokratie, ihren Werten, den nötigen urteilsfähigen Menschen – und unserem aktuellen Scheitern.

v.l.n.r. Claudia Mahnke (Giselle; liegend) und Domen Križaj (Guercœur). Foto: Barbara Aumüller
Das Werk der Stunde – Alberic Magnards „Guercœur“ trifft in Frankfurts Oper ins Zentrum unserer derzeitigen Misere
Auf Jo Schramms Bühne kreist eine Mischung aus Mies-van-der-Rohe-Haus und Bonner Kanzlerbungalow mitsamt Henry Moores Mutter-Plastik. Daneben dreht einmal die Totenfeier für Guercœur herein, erneut das Haus mit seinen durch luftige Vorhänge vielfach veränderten Räumen, dann zum Finale ein bühnenweiter Plenarsaal – dessen großes Rund aus Holzstreben zu Beginn der freiwillig heraufbeschworenen Diktatur spektakulär zusammenbricht. Damit ist schon ein Zentrum des Werkes visuell und technisch beeindruckend erzählt.
In diesen Räumen ist zunächst der Abschied vom früh verstorbenen demokratischen Anführer Guercœur zu verfolgen. Doch bald nach der Trauerfeier lässt sich seine Witwe Giselle in eine neu erfüllte Beziehung mit Guercœurs einstigem Gefolgsmann Heurtal ein. Doch dieser beginnt, die aufbrechenden Probleme von Hunger und sozialen Kluften zunehmend durch „Kraft“, „Elan“, schließlich durch diktatorische Maßnahmen als neuer „Anführer“ zu lösen. Der zurückgekehrte Guercœur scheitert und wird getötet. Diese Verstrickungen stellen eine Handlungsebene vor, deren politische Aktualität – über Machtgier, den „starken Mann“, die Wankelmütigkeit einer notleidenden Volksmasse bis hin zur nachempfundenen Parlaments-Prügelei (Bulgarien 2010, Washington 2024) – in einem Werk von rund 1900 erschreckend bis gespenstisch wirkt.
Zu all dem hat Magnard eine weitere Handlungsebene eingezogen. Der auf dem Totenbett liegende Guercœur erhebt sich als bleiches, weiß gekleidetes Wesen, nur für uns Zuschauer sichtbar. Zu ihm treten in unterschiedlichen Kostümfarben „Wahrheit“, „Güte“, „Schönheit“ und „Leiden“ als allegorische Figuren des Jenseits – wodurch das Werk auch Züge eines Mysterienspiels bekommt. Guercœur erfleht seine Rückkehr, doch zwei Jahre sind vergangen. Er durchleidet die lebens- und realitätsnahe Neuorientierung Giselles an der Seite Heurtals. Dann stemmt er sich vergebens gegen den verführerischen Populismus seines einstigen Schülers und dessen brutal errichtete Diktatur und wird erschlagen. Er kehrt an „Leidens“-Seite in den Kreis der Allegorien zurück, findet mal Ruhe, mal nur bitteres Hohnlachen – denn die lichtblau gekleidete „Vérité“ imaginiert in einer fein aufgebauten Schlussszene die wünschenswerten Grundsätze einer auf „Freiheit und Liebe“ gegründeten Weltgemeinschaft. Das ist so differenziert formuliert, so intellektuell wünschenswert überzeugend und so ideell brillant – dass jetzt auch in Frankfurt das Publikum wie erschlagen dasaß und dann erst langsam zu Beifall fand. Was für eine allen religiösen oder esoterischen Kitsch meidende, all dies fein tragende Inszenierung durch David Hermann! Was für ein Werk! Was für eine perspektivisch humanitäre Herausforderung!
Der Lebenslauf des eigenwilligen Alberic Magnard (*1865) ist schon fast ein Bühnenstoff: mit vier Jahren Halbwaise nach dem Selbstmord der Mutter, später finanziell unabhängiger „Le-Figaro“-Erbe, Kompositionsstudium und bald anerkannt in Kunstzentrum Paris. Doch bei seinem privaten, tödlichen Kampf gegen deutsche Soldaten am 3. September 1914 verbrennt sein Opernmanuskript. Die Rekonstruktion durch seinen Freund Guy Rogartz wird erst 1931 uraufgeführt und gehört seither zum Schattenrepertoire.
Fast gemäß dem im Werk und real bislang erfolgreichen „Leiden“ blieben, untypisch für Frankfurts Oper, zwei musikalische Aspekte unerfüllt: Hatte vor zwei Jahren Anna Gabler als Genièvre im französischen Fach beeindruckt (nmz online vom 24.07.2022), so scheint sie dann zu schwere Rollen gesungen zu haben: ihr Sopran klang hart, scharf und bemüht – so dass die Gloriole ihrer „Vérité“ nicht alles überstrahlte, sondern ausblieb. Wünsche blieben auch bei Marie Jaquots Dirigat offen: ihr dramatischer Fluss überzeugte; doch Magnards Komposition ist so beeindruckend vielschichtig, dass nach Lyrik, fahler Verzweiflung und kalt-kantiger Machtentlarvung bis hin zu utopischem Leuchten zu fragen blieb. Doch AJ Gluckerts Emporkömmling Heurtal überzeugte mit Tenor-Wucht. Claudia Mahnke gab Giselle die hin- und hergerissenen Züge einer in Männer-Dominanz leidvoll liebenden Frau. Domen Krizaj knüpfte an seinen ja auch scheiternden „Roi Arthus“ an: baritonale Wärme, verletzte Emotionalität und visionäre Expressivität – all das verwoben mit fein divergierendem Spiel in Guercœurs Seelenwanderung wie seinem desillusionierenden zweiten Leben und dann seiner verbitterten Rückkehr in ein Jenseits, das von Trümmern umgeben ist – wie ein Blick auf unsere Zukunft… nur: wo ist die Hoffnung auf unsere „Wahrheit“?
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