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Konzert der Dresdner Philharmonie mit Schauspieler Ulrich Noethen und Birgit Minichmayer, mit Tenor Kangyoon Shine Lee und Bariton Michael Borth und unter Dirigent Gergely Madaras am 9. November 2025 im Kulturpalast. Foto: Oliver Killig

Konzert der Dresdner Philharmonie mit Schauspieler Ulrich Noethen und Birgit Minichmayer, mit Tenor Kangyoon Shine Lee und Bariton Michael Borth und unter Dirigent Gergely Madaras am 9. November 2025 im Kulturpalast. Foto: Oliver Killig

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Die Irrfahrt des Juden Otto Silbermann

Untertitel
Das Melodram „Der Reisende“ von Jan Müller-Wieland in Dresden uraufgeführt
Vorspann / Teaser

In der Reichspogromnacht vom November 1938 wurden Tausende deutscher Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Der Komponist George Dreyfus berichtet, wie sein jüdischer Vater der Verhaftung entging, indem er tagelang mit der Eisenbahn fuhr. In Zügen waren deutsche Juden noch einigermaßen sicher. Der Autor Ulrich Alexander Boschwitz war als „Halbjude“ bereits 1935 kurz nach dem Abitur von Berlin ins Ausland geflohen und erfuhr dort von der Pogromnacht. Berührt von den Ereignissen schrieb er innerhalb weniger Wochen seinen Roman „Der Reisende“. Hauptfigur ist der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, der in der Pogromnacht aus seiner Wohnung flieht, in der Hoffnung, zu seinem Sohn nach Paris reisen zu können. An der Grenze wird er jedoch aufgegriffen, so dass er zu Bahnfahrten gezwungen ist, die ihn in den Wahnsinn treiben.

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Dieser Roman wurde 1939 in übersetzter Fassung in England veröffentlicht, wo sein Autor inzwischen lebte. Er wurde dort 1940 als „feindlicher Ausländer“ interniert, nach Australien deportiert und in ein Lager gesteckt. 1942 durfte er nach Europa zurückkehren. Sein Schiff wurde jedoch von einem deutschen U-Boot versenkt, so dass Boschwitz im Alter von 27 Jahren starb. Nachdem das Originalmanuskript in den 1960er-Jahren in Deutschland aufgetaucht war, wurde es endlich 2018 veröffentlicht und als eines der wichtigsten Bücher des Jahres gefeiert.

Der Komponist Jan Müller-Wieland stieß auf diesen Roman, dessen direkte Sprache er optimal für Musik hielt. Während der Pandemie entwickelte er daraus das Szenario für ein Melodram für Sprecher, Sprecherin, Soli, Chor, Zuspielungen und großes Orches­ter. Es gibt vier Hauptpersonen: Otto Silbermann mit seiner nichtjüdischen Frau Elfriede, ihren Sohn Eduard und schließlich Willi Becker; dieser ist Ottos Geschäftspartner und zugleich Elfriedes Bruder. Das Ehepaar Silbermann spricht, während Eduard und Willi singen. Der Komponist erklärte diese Trennung mit der Rolle der Musik im Nazismus. Ihre manipulative Kraft ist für ihn mitverantwortlich für die Verbrechen. „Die Silbermanns aber sind nicht mitverantwortlich. Deshalb singen sie nicht.“

Das Werk, das im Auftrag der Dresdner Philharmonie anlässlich des Gedenkjahres „80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg“ entstand, wurde am 9. November im gutbesuchten Dresdner Kulturpalast zur Uraufführung gebracht. Wie in seiner Oper „Nathans Tod“ (2000) und dem Melodram „Der Knacks“ (2009) gab der Henze-Schüler Müller-Wieland, seit 2006 Kompositionslehrer in München, der Musik auch hier eine theatralisch-dramatische Funktion. Zwei Hauptelemente bilden dabei einen scharfen Kontrast: die Andeutung eines zarten Wiegenliedes und die wiederholten dissonanten Fortissimo-Schläge des ganzen Orchesters, vom Komponisten als „Rammbock“ bezeichnet. Sie charakterisieren die Gewalt jener Nazis, die laut „Aufmachen!!“ rufen und dann in die Silbermann-Wohnung einbrechen.

Bei der Aufführung durch die Dresdner Philharmonie unter der souveränen Leitung von Gergely Madaras verkörperte der musikerfahrene Ulrich Noethen eindrucksvoll den Juden Otto Silbermann, Birgit Minichmayr dessen Frau Elfriede. Durch hohe Textverständlichkeit zeichneten sich ebenso der Tenor Kangyoon Shine Lee als Eduard und der Bariton Michael Borth als Konfliktfigur Willi aus. Die stets präsenten Sänger und Sängerinnen des Philharmonischen Chors und des kammerchors cantamus stellten die bedrohliche Volksmenge dar, übernahmen aber auch andere dramatische Funktionen. Eine kluge Lichtregie (Alexander Hauer) unterstrich den Wechsel der Schauplätze zwischen Berlin und Paris; bei surrealen Traumszenen wie „Die Seelen der Möbel“ sah man bewegte Schatten. Auch die über Lautsprecher eingespielten Schnellzuggeräusche verhallten ins Unwirkliche. Nach Otto Silbermanns verzweifelten Worten „Mein Leben für das Recht“ verlosch am Ende das Licht. Nachdenklicher, anhaltender Beifall.

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