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Anne Teresa De Keersmaeker: The Goldberg Variations, BWV988 © Anne Van Aerschot

Anne Teresa De Keersmaeker: The Goldberg Variations, BWV988 © Anne Van Aerschot

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Die Zerbrechlichkeit des Menschseins: Anne Teresa De Keersmaeker beim Kunstfest Weimar

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Mit nur wenigen Beiträgen schwenkte das am 8. September mit einem Konzert von Ute Lemper endende Kunstfest Weimar 2024 unter dem Motto „Wofür wir kämpfen“ aus einer streitbaren politischen Positionierung für demokratische Werte im Umfeld der Thüringer Landtagswahlen aus. Anne Teresa De Keersmaeker zeigte im Deutschen Nationaltheater ihre tänzerische Paraphrase von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988, es spielte Alain Franco. 

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Schließlich war das Gastspiel der belgischen Tanzlegende Anne Teresa De Keersmaeker (geb. 1960) im Deutschen Nationaltheater am vorletzten Abend des Kunstfests Weimar 2024 doch noch gut besucht. Dass es De Keersmaeker bereits an mehreren namhaften Orten umjubeltes Solo auf Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 im Vorverkauf eher schwer haben sollte, war nach dem heftig akklamierten „Sounding Light“ des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan und einem komplexen Duo-Stück wie „What is Danger?“ von Jan Möllmer und Chang Chien-Hao schwer verständlich. Schließlich sind die Thüringer Bachwochen das größte Klassikfestival des Landes, versteht sich die Region von Weimar bis Mühlhausen und Eisenach auch touristisch als Bachland. Dazu bietet die Klassikerstadt Weimar mit der Bach Biennale Weimar inzwischen einen eigenen Veranstaltungszyklus für den späteren Thomaskantor, der hier 1703 Lakai und Musiker der Hofkapelle, von 1708 bis 1717 Kammermusiker, Hoforganist und später Konzertmeister war. Auch kann man in De Keersmaekers Ästhetik Ideale des Bauhaus, einem weiteren Berührungspunkt zu Weimar, erkennen: Schlichte Formsprache, klare Bewegungen, schnörkellose Deutlichkeit, dekorative Strenge. 

Obwohl De Keersmaeker bei der Entstehung ‚ihrer‘ Goldberg-Variationen mit dem Pianisten Pavel Kolesnikov zusammenarbeitete, spielte hier Alain Franco auf einem Konzertflügel neuerer Bauart. Expertisen der historisch informierten Aufführungspraxis spielten offenbar keine Rolle. Das ist fast schade, weil De Keersmaeker in ihrem ebenfalls zweistündigen Solostück auf Bachs Cellosonaten BWV 1007 bis 1012 mit dem kundigen Jean-Guihen Queyras unter anderem bei den Salzburger Festspielen 2021 einen inspirierenden Partner hatte und ihre Choreographie auf Bachs sechs Brandenburgische Konzerte für ihre Kompanie Rosas mit dem B’Rock Orchestra unter Amandine Beyer auch auf DVD ein Kultstück wurde. Francos geradliniger Vortrag blieb unentschieden zwischen einer melodischen oder rhythmisch akzentuierenden Annäherung. Musik und Bewegung kamen nur selten in dialogische Beziehung zueinander. So gerieten die Goldberg-Variationen zu etwas, was nicht in der Absicht De Keersmaekers gelegen haben konnte: Sie waren Begleitmusik, wenn auch eine hochkarätige. 

Die große Bühne des DNT ist allerdings ein idealer Raum für sie. Mit stillen Bewegungen beginnt De Keersmaeker lange, bevor die Musik einsetzt. Das schwere, aber nicht düstere Licht akzentuiert, dass die Belgierin zu ihrem Alter steht. Viel Bewegungen wirken wie das Andeuten größerer Schritte. An der rechten Wand hängt eine Bahn Silberfolie, beim Flügel häuft sich zusammengeknüllte Gold- oder Klimaschutzfolie. Es fällt schwer, in den von einer Minipause unterbrochenen Variationen nicht einen spirituellen Bezug der Choreographie zur Musik entdecken zu wollen. Erst agiert De Keersmaeker in einem schlichten schwarzen Kleid, wechselt dann in Weiß und schließlich zu Erdbeerfarben. Ihre kleinen Bewegungen gewinnen im Gegensatz zum Spiel von Alain Franco an vorwärts gerichteter Sicherheit und Kraft. 

Hinter allen Bewegungen macht sich die Zerbrechlichkeit des Menschseins bemerkbar. Manche Drehungen, Armhebungen und Gänge wirken wie Andeutungen größerer Bewegungsimpulse. So als ob sich Körper und Wille über die Beschränktheit der Existenz hinwegheben möchten. In einer abstrahierten Form behält De Keersmaeker mit erstaunlicher Kondition den improvisierenden Duktus bis zum Ende aufrecht. Zugleich findet sie zu einer fast dramatischen Steigerung des Bewegungsmaterials und entwickelt damit eine von Franco am Klavier weitgehend unabhängige Dynamik. De Keersmaekers Zeitgefühl wirkt bei aller gestischen Bescheidenheit irregulär. Dieser Kontrast zu den Variationen verleiht ihrer Choreographie eine Bedeutung, welche über Illustrationen durch den Körper und seine Bewegungen weit hinausweisen. Der laute Applaus galt nicht nur dieser Choreographie, sondern auch einer maßgeblichen Autorität des zeitgenössischen Tanzes.

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