Große Gefühle, Katastrophe, herzzerreißendes Ende: Wenige Wochen nach dem 150. Todestag von Georges Bizet gelangte dessen in Deutschland aus Tradition unterschätzte Opéra lyrique „Les pêcheurs de perles“ (Die Perlenfischer) zur Hofer Erstaufführung. Das 1863 in Paris uraufgeführte Stück mit dem latenten Kultstatus ist für Häuser dieser Größe ideal, wenn man wie Dirigent Peter Kattermann, Regisseur Andreas Wiedermann, Ausstatterin Aylin Kaip und Choreographin Barbara Buser mit Aufmerksamkeit und Sensibilität an diese doch recht queere Story herangeht, deren originales Notenmaterial nur unvollständig erhalten blieb. Eine Sternstunde – mit Andrii Chakov und Minseok Kim an der Spitze des Ensembles.

Andrii Chakov (Zurga), Annina Olivia Battaglia (Leïla), Minseok Kim (Nadir), Chor. Foto: Harald Dietz
Erotischer Tsunami: Glanzleistung in Hof mit Bizets „Die Perlenfischer“
Exotische Sujets waren im Paris des 19. Jahrhunderts – angestachelt durch die großen Weltausstellungen und Kolonialwaren – äußerst beliebt. Aber man könnte den von Michel Carré und Eugène Cormon ersonnenen Dreieckskonflikt wie Verdis „Aida“ und andere Stücke zu jeder Zeit und an jedem anderen Schauplatz spielen. So verlegte man am Theater Hof „Die Perlenfischer“ in jene verhängnisvollen Tage zwischen 28. Dezember 2004 und 5. Januar 2005, als der Tsunami die Küstenregionen der vom Bürgerkrieg zerriebenen Insel Sri Lanka zerstörte und zahllose Menschenoper forderte. Eine realitätsnahe Umsetzung der Katastrophe hätte unter anderen Bedingungen heikel werden können, weil Bizets Oper mit ihrer originellen Instrumentation immer wieder auf das Pittoreske und Schöne abzielt. In deutlicher wie stilisierter Darstellung von Vermüllung, verbogenen Wellblechwänden sowie sehr feinen Übergängen zwischen Fast Fashion und ethnischen Relikten zeigt Aylin Kaip eine archaisch-moderne Gesellschaft mit den Motoren Konsum und Aberglaube. Barbara Buser führt das Hofer Ballett in Erinnerungsszenen der drei Hauptfiguren durch das Geschehen. Andreas Wiedermann hat in seiner Personenführung immer feine Abstufungen. Grausamkeiten werden deutlich und zu Bizets betörender Musik trotzdem kein theatraler Budenzauber. Die Balance zwischen Kolorit und den üppig pulsierenden Emotionen stimmt. Einiges überlässt Wiedermann der Phantasie. Wie immer bei Entdeckungen mit Substanz feierte das Hofer Publikum diese Produktion in lauten Bravi-Chören.
Insgesamt lieferte das Theater Hof für Bizets filigranes Werkkonstrukt mit seinen sensitiven Melodiegebilden und Rhythmik-Gespinsten eine glänzende Leistung. Ganz minimale Unebenheiten wurden peripher. Der im Piano hier noch wirkungsvollere Opernchor machte sich mit merkbarer Freude und feinsinnig entwickelten Einzelfiguren an den riesigen Part. Chordirektor Ruben Hawer wird einige Vorstellungen dirigieren. Den musikalischen Leiter Peter Kattermann interessierten nicht nur die verführerischen Aspekte in den von Plácido Domingo bis Jonas Kaufmann begehrten Glanznummern und Bizets Lyrik-Orgie. Man sah die Wolkenballungen des durch Politik und Naturkatastrophe zerstörten Inselparadieses nicht nur, sondern hörte sie auch. Zu Beginn bohren sich die langen Töne des Blechs mit Strawinsky-gemäßer Penetranz aus dem Graben. Bizets aparte Partitur klingt von den Hofer Symphonikern mit einigen Härten, ohne die intime Pikanterie und das erotische Fluidum der Partitur zu schmälern.

Annina Olivia Battaglia (Leïla), Andrii Chakov (Zurga). Foto: Harald Dietz
Nichtsdestotrotz wurde die Premiere – wie es bei „Die Perlenfischer“ sein muss – zu einer packenden wie schönen Sängerleistung, an deren Ende das Liebespaar Nadir und Leila der Lynchjustiz entkommt und für den sich mit Benzin übergießenden Anführer Zurga kein Weiterleben denkbar ist. Mit expliziter Eindeutigkeit singt Zurga von seiner Liebe zu Nadir sogar im Duett mit Leila, die zu retten ihm nach einer früheren Begegnung zur Pflicht wird. Wiedermann zeigt die queeren Aspekte in den Tanzszenen und Begegnungen der beiden Männer, ohne die lyrische Balance des Werks zu enthebeln. Anders als die Grandes opéras des 19. Jahrhunderts von Meyerbeer bis Chausson bleibt der „Carmen“-Komponist hier bei bei Krisen- und Katastrophenmomenten in kompositorischer Zurückhaltung.
Es gibt kaum Gelegenheit zu spontanem Szenenapplaus, den alle reichlich verdienen würden. Klassische und deshalb verzeihbare Premierennervosität wie oft bei legendären Paradepartien. Minseok Kim lief leicht zeitversetzt zur von ihm erwarteten Bestform auf. Er findet in die heiklen Pianoflächen der Romanze Nadirs mit minimal gutturalen Tönen hinein, liefert im ersten Finale und Liebesduett ein edles, kultiviertes und bewegendes Figurenporträt. Michal RudziĆski hat als Priester Nourrabad wenig zu singen, gibt dafür eine pittoreske Schlüsselfigur. Streng genommen kam die Partie der ihr Keuschheitsgelübde bemerkenswert schnell brechenden Bayadere Leila für Annina Olivia Battaglia etwas zu früh. In den wenigen dramatischen Passagen überzeugt sie mehr als da, wo Bizet sich an Bellini erinnert. So wird Andrii Chakovs Zurga zum Zentrum und Höhepunkt der Aufführung: Bemerkenswert ist, wie intensiv Chakov die emotionalen Grenzwerte der Partie auslotet. Trotz unüberhörbarer Verdi- und Belcanto-Qualitäten forciert Chakov nie, bleibt immer empathisch und kantabel am Kern der hier sehr subtilen Situationen. Insgesamt begeistert an dieser Produktion die bravourös erarbeitete Balance von Stil, Emotion und Intensität. Es sollte mehr solcher Opernabende geben.
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