Drei pausenlose Akte hat die Oper „Cardillac“ von Paul Hindemith, gut 100 Minuten dauert das Stück. In Essen, wo man sich am Aalto-Theater des Stoffes angenommen hat, entstehen zwischen den Akten längere Pausen, in denen eines passiert: Nichts. Nur ein wenig Gewusel um Umbau auf der Bühne dringt durch den Vorhang in den Zuschauerraum, doch ansonsten weicht Hindemiths expressionistisches Dauerfeuer hier wohltuender Leere, eine kleine Atempause an einem Abend, der vor musikalischer Hochspannung nur so strotzt.
(Mitte) Heiko Trinsinger (Cardillac), (Hintergrund) Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Matthias Jung
Expressionistische Hochspannung – „Cardillac“ von Paul Hindemith am Theater Essen
Regisseur Guy Joosten, der die Inszenierung bereits 2019 an der Oper in Antwerpen herausgebracht hat, rückt den mordenden Goldschmied Cardillac als exzentrischen, lustgetriebenen Narzissten ins Zentrum, der weniger als tragischer Narr wahrgenommen wird, sondern vielmehr als Getriebener in einer auf Anpassung bedachten Gesellschaft. Königliche Attribute und die Selbstinszenierung als Monarch auf einem absurd überdimensionierten Bett aus goldenen Stoffen unterstreichen die Absurdität eines vermeintlichen Künstlers, der durch den selbstgeschaffenen Mythos in den Abgrund getrieben wird. Katrin Nottrodts Bühne besteht aus einer bewusst extrem reduzierten, schwarz gehaltenen Grundarchitektur, durch die eine quadratische Metallstruktur wie ein irritierender Fremdkörper stößt. In diesem rauen Setting entfalten die eleganten, dunklen Kostüme im Stil der 1920er-Jahre und der leuchtende Goldberg ihre Wirkung. Das Ergebnis ist eine Mischung aus düsterer Film-noir-Anmutung und grotesker Übersteigerung.
Heiko Trinsinger gibt einen Cardillac, der zwischen unbewegtem Ernst und manischer Selbstüberhöhung schwankt und so die krankhafte Fixierung auf seine eigenen Schöpfungen glaubhaft macht. Seine Darstellung lebt von einer deutlich spürbaren, fast widerspenstigen Energie, die den krankhaft zwanghaften Charakter der Figur eindringlich vermittelt. Auch die Nebenrollen sind klar akzentuiert: Der Offizier (Andreas Hermann) tritt als tatkräftiger Ankläger auf, zerrissen zwischen Begehren und moralischer Entrüstung. Die Tochter (Betsy Horne) wirkt wie eine verunsicherte junge Frau, gefangen zwischen der Abhängigkeit vom Vater und der Aussicht auf ein neues Leben. Besonders die Rollen von Kavalier (Aljoscha Lennert) und Offizier als zwei Spielarten riskanter Begierde verleihen dem Abend zusätzliche dramatische Spannung, ebenso wie Magnus Piontek als zeittypisch dargestellter jüdischer Goldhändler.
(Mitte) Heiko Trinsinger (Cardillac), (links und rechts) Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Matthias Jung
Gesanglich präsentiert sich die Premiere mit einem durchweg überzeugenden Ensemble, das Hindemiths zuweilen wenig sangliche Linien mit spürbarer Stilsicherheit bewältigt. Trinsinger etwa gestaltet die Titelrolle mit strahlender Höhe und klarer Diktion, ohne die Stimme angesichts der expressionistischen Emphase zu verhärten. Betsy Horne verleiht der Tochter einen grundlegend lyrischen Ton, der sich in konfliktreichen Momenten zu schärferen Farben verdichtet. Die beiden Tenöre – als Kavalier und Offizier – überzeugen durch energiegeladene Phrasierung: Die große Arie des Kavaliers erhält dadurch eine unruhige Vorahnung, während der Offizier mit unerbittlicher Dringlichkeit agiert.
Es erweist sich als Glücksgriff, dass man auch in Essen die Urfassung von 1926 spielt. Hindemith hat die Oper Anfang der 1950er Jahre noch einmal überarbeitet, wobei der Umfang wuchs, allerdings – wie nicht selten bei Hindemiths Überarbeitungsmanie – viel von der Sprengkraft der Urfassung verloren ging. Unter Patrick Langes Leitung entwickeln die Essener Philharmoniker diese Urfassung von „Cardillac“ mit präzisem Formgefühl und einem Gespür für weite Spannungsbögen. Die neobarocken Elemente – Fuge, Concertino, markant herausgearbeitete Orchesterprofile – klingen nicht trocken-analytisch, sondern bündeln sich zu einem feurig-glimmenden, permanenten Klangfluss von enormer Intensität. Der druckvoll singende Chor des Aalto-Theaters behauptet sich durchaus kraftvoll auf der Bühne. In den großen Ensembleszenen entsteht ein massives, eindrucksvolles Klangbild, das das Bedrohungspotenzial der Menge deutlich hervorhebt, ohne in solchen Szenen, in denen es szenisch wie musikalisch drunter und drüber geht, die Textverständlichkeit gänzlich zu opfern.
Insgesamt zeigt diese Essener „Cardillac“-Neuproduktion, wie zeitgemäß Oper durch ihre Verbindung von Kriminalhandlung, Künstlerpsychogramm und Gesellschaftsanalyse wirken kann. Zwischen expressionistischer Geste, neobarocker Strenge, szenischer Abstraktion, filmischer Bildsprache und dramaturgischer Zuspitzung entsteht ein Abend, der durch einen packenden Zugriff und eine starke musikalische Leistung überzeugt.
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