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Fausts Verdammnis | Simon Stricker (Brander), Chor und Tanzensemble. Foto: Lutz Edelhoff

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Faust ist Erfurter: Brillantes Berlioz-Spektakel bei den Domstufen-Festspielen

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Während man den Leipziger Eisler-Tagen über Hanns Eislers unausgeführte Faust-Oper für die junge DDR spekulierte, spielt man bei den Domstufen-Festspielen bis zum 30. Juli Hector Berlioz’ fantastische Kopfkino-Opernkantate „Fausts Verdammnis“ auf voller Stufenbreite und Domberg-Höhe. Eine künstlerisch wertvolle Show durch Regie und Bühnenbild von Ben Baur. Bei Fausts spektakulärem Höllenritt steht sogar der Dom in (virtuellen) Flammen.

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30 Jahre gibt es die Domstufen-Festspiele in Erfurt. Das Festival mit dem monumentalen Einheitsbühnenbild versteht sich auch als Ort für in Mitteldeutschland kaum gespielte Musiktheater-Werke wie Verdis „I Lombardi“. Jetzt will Intendant Guy Montavon mehr Nachhaltigkeit, lieh Requisiten für die aufwändige Show von anderen Theatern.

Ideales Stück, ideale Inszenierung und ein ideales Sujet mit Regionalbezug: Hector Berlioz’ dramatische Legende „La damnation de Faust“ ist also goldrichtig für die Domstufen. Denn auch die thüringische Landeshauptstadt gehört zu den Faust-Orten. Nach dem Volksbuch (1567) war der Teufelsbündler und Wunderheiler mehrfach in Erfurt. Das Faustgäßchen erhielt seinen Namen offiziell 1850, hieß aber schon weitaus länger so.

Auch dass erste Faust-Adaptionen in der frühen Neuzeit Puppenspiele und Jahrmarktstheater waren, sprach als Erfurter Entscheidung für „La damnation de Faust“. Passend ist der mit Hilfe von Almire Gardonnière nach Gérard de Nervals Goethe-Übersetzung ins Französische gesetzte Berlioz-Geniestreich aus mehreren Gründen. Berlioz verfuhr durchaus musicalgemäß, obwohl er seinen Faust nicht zum Himmel, sondern zur Hölle fahren lässt. Die dem Publikum schon bei der Uraufführung 1846 in der Opéra-comique bekannten Goethe-Szenen kommen bei ihm in etwas anderen Kontexten vor. Zudem ist „La damnation de Faust“ eine musikalische Deutschland-Reise mit Tourismus-Appeal, in der Berlioz allerlei Klischeebilder Frankreichs über seine kleinstaatlich diffusen Nachbarn reihte.

Ben Baur erweist sich als richtige Person für solche theatrale Total-Unterfangen. Faust steht zu Beginn mit Schlips und Spaten an einem Grab – und zum Finale kommt er nach Berlioz’ gehetzt-genialem Höllenritt mit gleichem Outfit ins Grab. Baurs Bühnenbild: Eine Engelsstatue, eine steinerne Madonna, ein Friedhof sind derart täuschend an die Domstufen appliziert, dass Nicht-Ortskundige sie für originales Drumherum am Dom halten müssen. Natürlich auf Neugotisch. Das spielt mit Erwartungshaltungen der Goethe-Kundigen und lässt diese unerfüllt, weil für Berlioz viel Goethisches schnuppe war.

Die Regie – und Uta Meenen in kongenialen Kostümen mit dieser – denken weiter. Wenn der Domstufen-Faust nach Klerus-Schelte, Brauchtumstänzchen sowie einer domstufenbreiten Wallfahrtsprozession Berlioz’ süffige Genreszenen durchhat, erscheint Gretchen mit rosa Joppe und zitronengelben Zöpfen. Um mindestens eine Generation verjüngt ist sie und fährt Fahrrad. Französische Kulturkenner amüsieren sich gerne darüber, dass ein deutscher Doktor den Teufel braucht, um eine Frau herumzukriegen. Sogar diese Anstrengungen erlebt man auf den Domstufen mit wirklich feiner Ironie, welche das Premierenpublikum allerdings nur gleichgültig goutierte.

Beim Sylphidentanz an der Elbe erscheint Faust gleich eine ganze Gretchen-Horde (Choreografie: Rachele Pedrocchi). Beim Geistertanz schwingt sich die Luftakrobatin Carina Shapoval am Seil in schwindelerregende Höhen und erntet dafür den stärksten Applaus. Zum Höllenritt legen Projektionen den Dom in Flammen und drängt ein Ballett aus schwarzen Regenschirmen den Gelehrten zur infernalischen Unruh. Betörend in Berlioz’ tönenden Deutschlandbildern, seiner bizarren Hölle und einem Himmel, der Marguerite mit weichen Geigensoli empfängt, ist der Erfurter Opern- mitsamt Philharmonischem Chor rundum stark gefordert. Sie machen ihre Sache glänzend, auch betreffend langer Wegstrecken (Einstudierung: Markus Baisch).

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Fausts Verdammnis | Christophe Berry (Faust) und Corina Shapoval (Akrobatin). Foto: Lutz Edelhoff

Fausts Verdammnis | Christophe Berry (Faust) und Corina Shapoval (Akrobatin).

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Im Auto rast der Dirigent Yannis Pouspourikas aus dem etwa einen Kilometer entfernten Theater Erfurt herbei, aus dem das Philharmonische Orchester akustisch und visuell zu den Domstufen broadcastet wird. Was physische Musikleistung oder Mischpult-Akrobatik (Timo Bensing, Helge Petzold, Alexander Nickol, Andreas Schmidberger) ist, lässt sich auf den komfortablen Publikumstribünen schwerlich unterscheiden. Bei den Sounds hört man – das Auge hilft dank Baurs Breitwand-Sensibilität – viel von Berlioz’ pikanter und zu Meyerbeers großen Opern in Konkurrenz tretender Orchestermagie. Drei Besetzungen hat das Theater durch gute Connections des Intendanten vor allem aus Frankreich. Auch das ist ein diplomatisch-künstlerischer Beitrag zum 60 Jahre-Jubiläum Deutsch-französische Freundschaft.

Wie schaut es aus mit französischer Vokaldelikatesse im Land der Dichter und Denker? Erstaunlicherweise ist Erfurts Haustenor Brett Sprague als Faust, der ihm ideal liegen müsste, nicht vorgesehen. Der Franzose Christophe Berry tut sich mit Berlioz’ hohen Cis-Schmeicheleinheiten im Balzduett etwas schwer, strahlt dafür leuchtend über den Ostergesang, nimmt den Beginn comme il faut und trumpft im Gebet bei den schwarzen Kreuzen sattsam auf. Jean-Luc Ballestra ist beim ersten Auftritt ein roter und deshalb für unbedarfte Frauen eventuell gefährlicher Priester, trägt dann das Opferlamm in Schwarz zum Altar und kommt als Kuppler nur deshalb nicht zum vollen Zug, weil viel Stoff sein elegant mephistophelisches Spiel verkleistert. Er ist ein eher mediterraner Teufel, der in der milden Thüringer Sommerdämmerung minimal rau wird. Julie Robard-Gendre weiß als Gretchen schon vor dem faustischen Liebeszauber alles von den „süßen Ekstasen“. Deshalb lässt sie sich auf den von Berlioz’ vorgesehenen Zärtlichkeitsschub zwischen Mezzosopran und Solo-Viola gar nicht erst ein.

Die Übertitel sind übrigens nicht von Goethe, sondern Eindeutschungen aus de Nervals „Faust“-Übersetzung. Auch das zu passt zu Baurs & Montavons geistreichem Glamour: Das Publikum zweigte sich begeistert von dem gotisch-gründerzeitlichen Edel-Vintage. – Das Domstufen-Festspielstück 2024 ist „Anatevka“.

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