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 Stehende Ovation für Christian Tetzlaff, Donghoon Shin und Leif Ove Andsnes im historischen Wasserkraftwerk Heimbach. Foto © Georg Witteler.

Stehende Ovation für Christian Tetzlaff, Donghoon Shin und Leif Ove Andsnes im historischen Wasserkraftwerk Heimbach. Foto © Georg Witteler.

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Fluchtpunkt Kammermusik – Das Sommerfestival „Spannungen:2025“ im zweiten Jahr von Christian Tetzlaff

Vorspann / Teaser

Von Köln aus fährt man über das sogenannte Vorgebirge „Die Ville“ weiter südwestlich durch die Zülpicher Börde immer sanft aufwärts. Dass man schließlich die Eifel erreicht, merkt man erst in Nideggen, wo die Landstraße plötzlich über Serpentinen steil ins Tal der Rur abfällt, nicht zu verwechseln mit der Ruhr und dem danach benannten Kohle- und Stahlrevier. Wenige Kilometer das idyllische Flusstal aufwärts gelang man nach Heimbach, gelegen unterhalb der großen Stauseen von Urft und Rur am Fuße von „Der Kermeter“, dem mit über fünfhundert Metern höchsten Bergrücken im nördlichen Teil des Mittelgebirges. Wer hier während der Tage um Fronleichnam spaziert, hört zwischen den vielen Cafés und Lokalen aus geöffneten Fenstern plötzlich Musik, nicht von Radio oder CD, sondern im kleinen Saal des Rathauses live gespielt. Die Hauptgasse weiter tönt eine Geige aus der Kunstakademie und auf der Burg bläst jemand Fagott. Was geht hier vor?

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Von Köln und Aachen jeweils eine Autostunde entfernt, ist Heimbach üblicherweise ein beliebter Ausflugsort für Wanderer, Angler, Segler, Camper und Biker. Doch zehn Tage im Jahr ist die Provinz ein Treffpunkt für international renommierte Musikerinnen und Musiker. Aus der halben Welt kommen sie zusammen, um tagsüber zu proben und allabendlich Solo- und Kammermusikwerke von Klassik, Romantik, Moderne und neuer Musik aufzuführen. Gegründet hat das Festival „Spannungen“ Lars Vogt 1998. Der Pianist wurde im unweit gelegenen Düren geboren und hatte als Solist und Kammermusiker mit vielen hochkarätigen Interpretinnen und Interpreten zusammengearbeitet, von denen er viele nach Heimbach holte. Nach seinem Tod übernahm Christian Tetzlaff 2023 die Leitung des Festivals.

Schauplatz der Konzerte ist das am Berghang und Fluss gelegene denkmalgeschützte Jugendstil-Wasserkraftwerk Heimbach. In den Konzertpausen gibt es Cateringzelte und man kann am Ufer sitzen, picknicken, spazieren. Das 1904 erbaute Kraftwerk ist innen wie außen mit funktionstypischen Motiven verziert, mit Blitzen, Glühlampen, Isolatoren und Drähten. Bei maximalem Wasserdruck von 110 Metern erzeugt die Anlage über mehrere Turbinen eine Leistung von 12 Megawatt und war damals das größte Speicher-Wasserkraftwerk Europas. Bis heute wird hier Strom erzeugt. Nur während der „Spannungen“ wird das Kraftwerk vom Betreiber RWE abgeschaltet. Statt Elektrizität generieren dann erstklassige Musikerinnen und Musiker Hochspannung für bis zu fünfhundert Besucherinnen und Besucher. Neben herausragenden jungen Talenten sind es international arrivierte Größen, die längst Professuren an Musikhochschulen oder Solistenstellen bei renommierten Orchestern bekleiden.

Das zweite Festival unter Leitung von Tetzlaff bot unter dem Motto „Das Echo der Zeit“ Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, ein Familienkonzert, öffentliche Proben sowie täglich auf der Festivalwebsite veröffentlichte Video-Konzerteinführungen von Pedro Obiera. Die acht Abendkonzerte verbanden Musik unterschiedlicher Besetzungen, Epochen und Stilrichtungen zu beziehungs- und kontrastreichen Programmen. Auch das ist ein Aspekt von „Spannungen“. Einen Schwerpunkt legte Christian Tetzlaff auf Musik der im KZ Theresienstadt ermordeten jüdischen Komponisten Gideon Klein, Viktor Ullmann und Pavel Haas, wahlweise kombiniert mit Werken von Mozart, Mendelssohn, Chopin, Sibelius, Strauss und Bartók. Neben bekanntem Repertoire von Dvořák, Smetana, Debussy und Schostakowitsch präsentierte man auch seltener zu hörende Werke von Clara Schumann, Vierne, Saint-Saëns, Mahler, Smyth sowie neue Musik von Berio, Kurtág und Tenney.

Wie alle Jahrgänge boten auch die „Spannungen:2025“ die Uraufführung einer Auftragskomposition, seit jeher finanziert von der Dürener Unternehmerfamilie Rohs. Der 1983 in Süd-Korea geborene Donghoon Shin promoviert gegenwärtig noch bei George Benjamin in London, schreibt aber längst Werke und Solokonzerte für namhafte Solisten und Orchester in London, Seoul, Berlin, Dresden sowie für das Ensemble intercontemporain. Seine „Winter Sonate“ komponierte er für Christian Tetzlaff und den Pianisten Leif Ove Andsnes. Der Titel bezieht sich nach Auskunft des Komponisten nicht nur auf die Jahreszeit, während der er das Stück im verregneten London schrieb, sondern auch auf die aktuellen Kriege und Krisen. Die Musik orientiert sich an der Sonatenform und Beethovens Prinzip Hoffnung „Per aspera ad astra“. Beides manifestiert sich im Dualismus eines atonalen Winter- und tonalen Frühlingsthemas.

Dualismus eines atonalen Winter- und tonalen Frühlingsthemas

Das Stück beginnt in düsterem c-Moll mit wild losbrechenden Dissonanzen und unter überhöhtem Bogendruck ächzenden Sforzati der Geige. Die schroffen Attacken verrauchen jedoch rasch und weichen einer fahlen Melodie, kraft- und körperlos fast ohne Ton, als sei aller Trotz und Kampfeswille plötzlich trister Winterdepression gewichen. Erst massig anrollende Akkorde des Klaviers stacheln die Geige dann wieder zu heftigen Intervallsprüngen an. Doch erneut verliert sich die Musik in einem nostalgisch sanften Adagietto wie von Gustav Mahler. Über Cholerik, Phlegmatik und Melancholie mündet das vierteilige Stück schließlich in die Sanguinik eines tolldreisten Walzers voll aberwitziger Kapriolen, rasender Läufe, extremer Doppel- und Tripelgriffen sowie quietschend hoher Spitzentöne am Rande des Griffbretts. Die beiden Virtuosen entfalteten einen wahrhaften Funkenflug. Ihre ebenso hör- wie sichtbare Könnerschaft, Anspannung und Anstrengung glich einem verzweifelt ums Überleben ringenden Tanz auf dem Vulkan und ließ zugleich alle Krisen der Welt vergessen. Als ein „Echo der Zeit“ erwies sich diese elektrisierende Neo-Neoklassik vor allem als ein durch Aktionismus camouflierter Eskapismus.

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Leoš Janáčeks „Concertino“ mit (von links) Antje Weithaas, Christian Tetzlaff (Violine), Jan Larsen (Viola), Zoltán Fejérvári (Klavier), Pablo Neva Colazzo (Horn), Rie Koyama (Fagott) und Sharon Kam (Klarinette), Foto © Georg Witteler.

Leoš Janáčeks „Concertino“ mit (von links) Antje Weithaas, Christian Tetzlaff (Violine), Jan Larsen (Viola), Zoltán Fejérvári (Klavier), Pablo Neva Colazzo (Horn), Rie Koyama (Fagott) und Sharon Kam (Klarinette), Foto © Georg Witteler.

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Gerahmt wurde die Novität durch Leoš Janáčeks „Concertino“, einer eigenwilligen Kreuzung aus Tanzsuite und bravourösem Klavierkonzert. Das Klavier agiert in den beiden ersten Sätzen fast nur einstimmig in ebenso einsilbiger Zwiesprache mit Horn bzw. Es-Klarinette samt Anleihen bei Folklore, Pentatonik und Synagogalgesang. Erst dann tritt das Tutti mit Fagott, zwei Violinen und Viola hinzu. Mit vollem Körpereinsatz spielte Cellistin Tanja Tetzlaff die nahezu unentwegten Fortissimo-Bogenwechsel von Iannis Xenakisʼ „Kottos“ über den Kampf von Zeus gegen den mit hundert Armen und fünfzig Köpfen ausgestatteten gleichnamigen Titanen. Den Abschluss bildete Beethovens Streichquartett a-Moll op. 132, dessen fünf Sätze den „Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit in der lydischen Tonart“ rahmen. Ausgezeichnet gespielt, wenngleich etwas kontrast- und kantenlos, wurde das Quartett von Antje Weithaas und Hana Chang (Violine), Barbara Buntrock (Viola) und – seit Anfang des Festivals dabei – Gustav Rivinius (Violoncello). Alle Konzerte „Spannungen:2025“ wurden vom Deutschlandfunk mitgeschnitten und werden nach und nach gesendet.

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