Eine glänzende Aufführung des Gärtnerplatztheaters 2013–14, dann ein verquastes Warlikowski-Gastspiel mit der Fixierung auf Homosexualität und zeitlos dazu natürlich die fulminante Filmfassung mit Joel Grey und der zum Weltstar aufsteigenden Liza Minelli von 1973 … doch das ernstzunehmende Schauspielhaus Münchens setzt auf den ernstzunehmenden Musiktheater-Regisseur Claus Guth für seine erste Musical-Inszenierung …
Vincent Glander Foto: © Monika Ritterhaus
Gestriger Alp für Heute und Morgen – Bestürzende Fassung von „Cabaret“ im Residenztheater des Bayerischen Staatsschauspiels
Mit viel Szenenbeifall, am Ende tosendem Jubel und standing ovations wurde ein Musterbeispiel gefeiert: wie ein Klassiker des sogenannten „leichten Genres“ vom kritisch denkenden Regisseur, zwei Dramaturginnen und einem glänzenden Bühnenteam unausweichlich für Hier, Heute und Morgen aufbereitet wurde – ohne das herausragende Werk in derzeit allzu oft gängiger Manier modernistisch „zu verbessern“, also zu verhackstücken, mit fremden und noch banaleren eigenen Texten und Hinzufügungen herabzuwürdigen, aber auf dem großen Originalnamen zu „reisen“.
Claus Guth hat mit seinen beiden musikalischen Leitern Stephen Delaney und Philipp Tillotson den Handlungsablauf neu gefasst. Da begrüßt zwar der schon zu Beginn hintergründig wirkende Conférencier von Vincent Glander, aber er überbrückt das erst allmähliche Eintrudeln der sieben, acht Band-Musiker für die reduzierte Orchesterfassung von Chris Walker. Als die dann unter Stephen Delaney die Ouvertüre „hingelegt“ haben, öffnet sich der Vorhang zu einem schlichten Hotelzimmer, das der grauhaarige Clifford Bradshaw (Michael Goldberg) mit der Besitzerin betritt. Sein Gepäck wird geliefert; erstarren alle für einen Moment; das Licht wechselt in ein helles Blau und während der alte Bradshaw nach dem Trinkgeld sucht, tritt der junge Cliff (Thomas Hauser) herein, zu den Koffern und „übernimmt“, erinnert sich an die Zugbegegnung mit „Ernst Ludwig“, der ihn in dieses zur damaligen Zeit billige Hotel gelotst hat… Von da an und weiterhin blättert der alte Schriftsteller Bradshaw wiederholt in den Notizbüchern zu seinen „Goodbye to Berlin“-Erzählungen (real erschienen 1939) … der junge Cliff greift dabei Sätze bruchlos auf und wird hauptsächlich in die turbulente Lebenswelt kurz vor Hitlers Machtergreifung hineingezogen.
Vassilissa Reznikoff. Foto:© Monika Rittershaus
In der perfekten Lichtregie von Gerrit Jurda bildet Regisseur Guth keine reale Zeitabfolge oder gar historisch-dokumentarische Wirklichkeit ab. Er folgt vielmehr der Logik eines „Traums zurück“ in einem theatralisierten Bewusstseinsstrom – sprunghaft wechselnder „stream-of-consciousness“ frappierend gelungen, als dann nicht etwa nur durch Tür und Fenster, sondern aus dem Schrank, dem Bettkästchen, dem Kühlschrank und dem leeren Bett die ganze Truppe des Kit-Kat-Clubs in den Raum hereinbricht und eine erste Mini-Show hinfetzt. Die volltrunkene Sally hatte sich da schon an Cliff gehängt. Später dreht sich die Zimmerrückwand seitlich weg und auf dem Hotelgang mit seinen Türen wird die sexuelle Libertinage der damaligen Metropole Berlin in mal feinen, mal derben „Spiel-Licht-Spots“ vorgeführt. Glanders Conférencier wechselt abgefeimt durch Kostüme, Geschlechter und Tonlagen. Myriam Schröder führt das herb realistisch berechnende „Fräulein Kost“ ein. Dazu kontrastiert dann die scheu-späte Liebesbegegnung der Hotelwirtin „Fräulein Schneider“(Cathrin Störmer) mit dem deutsch-jüdischen Gemüsehändler „Herr Schultz“(Robert Dölle) – amüsant garniert mit seinem herbeigezauberten Orangen, Mandarinen und Äpfeln – und dann ganz emotional intim anrührend im „Pineapple Song“-Duett samt der Hoffnung auf ein kleines Glück. Cathrin Störmer richtet dann später ihre Fragen nach dem „Wie hättet ihr euch denn verhalten?“ bedrängend direkt ans Publikum.
Theatralisch ganz vordergründig dann die wirr-schrägen Unberechenbarkeiten Sallys, die Vassilissa Reznikoff mit wildem Körpereinsatz bis hin zu beachtlicher Akrobatik und dann wieder verletzlich in „Maybe this time“ mitsamt einem zauberisch hochfahrenden Mikrofon vorführt - all das wird von einem ersten Schock konterkariert: Die Zimmertür geht auf, ein kleiner, noch neutral kostümierter Junge steht mit einer schwarzen Fahne da und singt im hereinwehenden Eis-Schnee „Tomorrow belongs to me“ – ein mit „Vaterland“-Tünche versehenes Mentekel … denn der Junge kommt später in HJ-Uniform und trommelt abstrakt quer durch den Bühnenraum. Spätestens da ist die gesamte Ton-und-Sound-Technik um Mathis Nitschke über Marius Juds „u.a.“ zu loben: Was allzu oft zu einem Bühne-und-Zuschauerraum erschlagenden Dröhnen gerät, vereint hier über den ganzen Abend differenziert Sprache, Tanz, Gesang, Sounds – und sogar stille Momente, die allein dem Licht oder der Bühne gehören – und dann wieder fetzig mit dem (für die Film-Fassung hinzukomponierten) „Money,Money,Money“-Klassiker in die Pause führen: in einem unausweichlich aggressiven Tutti an uns alle…
Vassilissa Reznikoff, Vincent Glander sowie die Kit Kat Girls & Boys. Foto: © Monika Ritterhaus
Die schon bislang faszinierende Bühne von Etienne Pluss öffnet sich im zweiten Teil erschreckend bis nach hinten an die Brandmauer: eine Welt aus dem Lot; die Reste der Hotelmöbel stehen auf schiefen Beinen vereinzelt im weiten Raum, schwach erhellt von den ebenso verteilten Stehlampen, Schnee rieselt – eine „Eiszeit“ der bekannt „teutschen“ Art kündigt sich an; Sally führt gekonnt absurd Poledancing vor; ein überlebensgroßer HJ-Junge aus Plastik droht im Hintergrund; die Kit-Kat-Boys und „Ernst Ludwig“(jetzt kantig: Vincent zur Linden) treten mit Braunhemden und SA-Koppel auf – Cliff erkennt diese Zeichen einer bösen Zeit und packt den Koffer – doch Sally klammert sich vor einem herabfahrenden, schmalen Bühnenvorhang mit dem grell-schmerzlich aufgeladenem „Cabaret“-Song an eine vermeintlich davon unberührte „Welt“ und lehnt sich an den alten Bradshaw – aber dann brennt sogar das Bett von Sally und Cliff …
Claus Guth umgeht nicht einseitig Tanznummern und Show-Getue. Er formt gefühlvolle Szenen und leise Momente. Doch zunehmend und am Ende erschreckend verwandelt er in seiner Münchner Fassung dieses Musical in ein „Tragödical“ bis hin zum „Apokalyptical“. Seine in Lichtwechseln aufscheinenden Bilder einer vergangenen Zeit – der Deutsch-Jude Schultz liegt am Ende halbnackt im Schnee – leuchten bis ins Heute hinein. Etliche Figuren und voran Glanders Conférencier erscheinen wie auftauchende Strömungen unserer Zeit: Enthemmung, Lust, Zynismus, Aggression, Zerfall; Glamour und Grauen gehen ineinander über; Wahrheiten werden immer weniger direkt ausgesprochen dafür „Money“ noch einmal als „Zugabe“. Auf Münchens Staatsschauspiel-Bühne gelingt Claus Guth und dem gesamten Ensemble – tutti bravi! – ein packendes, mehrfach überwältigendes „Theater der Welt“, wie es einst auch die Weimarer Phase von Piscator bis Brecht zeigte. Final ist die Brandmauer der Bühne und Inszenierung eine Erinnerung an die Aussage von UN-Generalsekretär Guterres: Er sah uns trotz aller Warnsignale weiterhin mit Vollgas unterwegs – sah, wie all dieses Leben gegen eine Wand rast, hinter der Entscheidungen warten, denen wir alle nicht mehr ausweichen können …
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