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Außerordentliche Künstlerin von existenzieller Wucht. Foto: Archiv Sikorski
Außerordentliche Künstlerin von existenzieller Wucht. Foto: Archiv Sikorski
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Hohnlachen Gottes auf die aus den Fugen geratene Welt

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Die russische Komponistin Galina Ustwolskaja ist tot · Ein Nachruf von Reinhard Schulz
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Es gibt Todesnachrichten, die berühren einen in ganz besonderem Maße schmerzlich. Die russische Komponistin Galina Ustwolskaja ist am 22. Dezember 2006, zwei Tage vor Heiligabend, in St. Petersburg gestorben. Dort, damals hieß der Ort Petrograd, ist sie 87 Jahre davor, am 17. Juni 1919 auch geboren worden und sie hat die Mauern der Stadt im Grunde nie verlassen. Sie war gleichsam ein Anker der Stadt, die seit der in ihr ausgelösten Oktoberrevolution so viel an Pracht und Entsetzen erlebte und die mehrfach ihren Namen wechselte.

Mit 87 Jahren sterben, da spricht man gemeinhin von einem erfüllten und reichen Leben, das einen Kreis ausgeschritten hat und nun zur Ruhe gekommen ist. Bei Galina Ustwolskaja, und das macht die Todesnachricht so bitter, kann man das nicht sagen. Sie hat nicht gelebt, sie hat gelitten. Woran? Das ist nicht ganz konkret zu benennen, doch sie litt am Elend der Menschen, am Unausweichlichen, ja an der Existenz selbst, die, wie schon der erste abendländische Philosoph Anaximander in seinem einzig erhaltenen Satz behauptet, allein ein Abtragen von Schuld ist („Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron – das grenzenlos-Unbestimmbare. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“). Es ist gewiss nicht zu weit hergeholt, dass diese außerordentliche Frau, die in ihrem Leben auf geradezu tragisch lächerliche Art nur Missachtung traf (bis man sie in den 80ern im Westen „entdeckte“, als alles schon zu spät war), ihr Dasein als Schuld verstand und damit Kontakt nahm zu fundamentalen Seinserfahrungen, denen sich unsere Gesellschaft längst hermetisch verschlossen hat. Und das real-sozialistische Umfeld, mit dem sie sich fast lebenslang konfrontiert sah, war in seiner dummen Bodenständigkeit von solch visionär-tragischen Einsichten ohnehin meilenweit entfernt.

Einer freilich achtete sie, verliebte sich wohl in sie. Es war Dmitrij Schostakowitsch, bei dem sie Unterricht genommen hatte. „Nicht Du stehst unter meinem Einfluss, sondern ich unter Deinem“, hatte er einmal an sie geschrieben und damit bekannt, dass Ustwolskaja Musik in schonungsloser Radikalität dachte, die für den trotz aller bürokratischen Widerstände ersten Komponisten der Sowjetunion zum (unerreichten) Leitbild wurde. Und immer wieder setzte er sich für das so rätselhafte Schaffen Ustwolskajas ein. „Ich bin überzeugt, dass die Musik von G.I. Ustwolskaja weltweite Anerkennung finden wird bei allen, die der Wahrhaftigkeit in der Musik entscheidende Bedeutung beimessen.“ (Das schwierige Verhältnis von Schostakowitsch zu Ustwolskaja führte übrigens später zu einer Entfremdung der beiden, die zumindest bei ihre tiefe Spuren der Bitterkeit zurückließ.)

Wahrhaftige Musik! Die These, dass Musik nicht schön, sondern wahr sein solle, hat Schönberg einst mit grandioser Geste ins Feld geführt. Sie war Parole mit zutreffendem Kern, aber was wirklich Wahrheit in der Musik ist, das hat wohl allein Galina Ustwolskaja bis in die letzten existenziellen Winkel durchlebt. Denn Wahrheit kann man nicht behaupten, zumindest nicht nur, man muss sie leben.

Und so fühlte sich Ustwolskaja mit göttlichen Kräften verbunden, ja sie war ihnen ausgeliefert. An den Sikorski-Verlag schrieb sie 1990: „Ich würde für ihren Verlag gern etwas komponieren, doch hängt dies von Gott ab, nicht von mir.“ Und sie führte weiter aus: „Meine Arbeitsweise unterscheidet sich in ihrem Ablauf ganz wesentlich von derjenigen anderer Komponisten. Ich schreibe dann, wenn ich in einen Gnadenzustand gerate. Dann ruht das Werk eine Zeitlang, und wenn seine Zeit gekommen ist, gebe ich es frei. Wenn seine Zeit nicht kommt, vernichte ich es. Aufträge nehme ich nicht an.“

Welch Größe steckt in diesem letzten Satz, der das ganze Auftragswesen (das freilich vielen Komponisten das Überleben sichert) als Unwesen entlarvt! Keine Ratio langt da hin, die immer wieder das Ins-Geschäft-Kommen als richtigen Weg proklamiert. Musik aber ist kein Job, in dem man dann „sein Bestes“ zu geben hätte. Denn im Job verrät man gerade sein Bestes, indem man bei seiner Erfüllung aufs Äußere schielt. Verweigert man dies, dann kann man nicht leben. Ustwolskaja lebte nicht.

So ist auch ihre Musik – zumindest die, die etwa in den 50er-Jahren anhub und dann 1990 mit der 5. Sinfonie mit dem beschließenden Titel „Amen“ endete – keine Musik. Zumindest nicht in den Maßstäben unserer Verwertungskultur. Was wir finden, sind Trümmer eines zerschlagenen musikalischen Körpers, blutige Fetzen, Gliedmaßen, Knochen.

Sie liegen auf einem Feld, über das die apokalyptischen Reiter hinwegbrausten (sind es die des Letzten Gerichts oder die, mit denen wir im 20. Jahrhundert in Verdun, Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima, Vietnam, Afghanistan oder Irak immer wieder konfrontiert waren?). Immer greller und immer reduzierter wurden in den letzten Werken die klanglichen Materialien: sei es die irrsinnige Konfrontation von Tuba und Piccolo (Composition Nr. 1 – Dona nobis pacem), die nicht minder drastische von acht Kontrabässen und einem mit dem Hammer malträtierten Holzkubus (Composition Nr. 2 – Dies irae) oder seien es die in verzweifelter Permanenz niedergeschlagenen clusterartigen Klänge in der 6. und zugleich letzten Klaviersonate von 1988, die jegliche Vorstellung einer in sich logischen Konsistenz der musikalischen Struktur tilgen (wie auch die Benennung Sonate jeglicher Basis beraubt ist). Es ist nur noch das heftige Schlagen, fast so, wie ein vom Schicksal getroffener seinen Kopf gegen die Wand schlägt. Gleichwohl schreibt Ustwolskaja jeden Klang aus, was sich im Notenpart fast wie eine Reihe von Blütenständen ausnimmt, da sechs oder sieben eng nebeneinanderliegende (und aus Platzgründen auch nebeneinandergeschriebene) Notenköpfe mit schrägen Hälsen zu einem Hauptstrang zusammen laufen. Sie weisen gleichzeitig darauf hin, dass klanglich genau differenziert wurde. Denn die Cluster haben mitunter Löcher, füllen also nicht exakt das chromatische Total und sie ändern auch ihre Positionen. In der Wirkung freilich steigert sich dadurch in erster Linie das Moment des fast bewusstlosen oder blinden Schlagens, der Ohnmacht gegen das Fatum.

Es gab in der Geschichte wohl noch nie eine Musik, die auf so direkte Art betroffen macht. Allenfalls der ganz späte Schubert in seinen letzten Liedern oder einige Passagen von Mahler ließen einen vergleichbar ungehemmten Einfall von Schicksalsgewalt ahnen. Doch bei Ustwolskaja wird niederschmetternd klar: Es gibt kein Entkommen. Musik blüht nicht mehr auf, sondern blickt einzig auf ihre Ruinen zurück.

Trost? Es gibt höchstens den, dass jemand, der 87 Jahre auf Erden war und dennoch, eingezwängt von Ängsten und Ahnungen, nie richtig (aber was ist richtig?) lebte, auch nicht sterben kann. Musikalisch geschwiegen hat Ustwolskaja schon die letzten 15 Jahre ihres irdischen Daseins. Jetzt ist das Schweigen dieser unvergleichlichen und in ihrer existenziellen Wucht kaum zu fassenden Künstlerin zu einem endgültigen geworden. Ihre Werke freilich fassen auf ewig den Schrei der Verzweiflung, der auch wie ein Hohnlachen Gottes auf eine in ihrem Selbstlauf aus den Fugen geratene Welt wirken mag.

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