Bernard Foccroulles Oper „Cassandra“ nach einem erfundenen Sujet des kanadischen Theatermachers Matthew Jocelyn, wurde von der Uraufführung 2023 am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie an die Berliner Staatsoper Unter den Linden übernommen und in einer eigenen musikalischen Einstudierung zur deutschen Erstaufführung gebracht. Marie-Eve Signeyrole inszenierte routiniert.

Gidon Saks (Priam, Alexander), Katarina Bradić (Cassandra), Susan Bickley (Hecuba, Victoria) und Komparserie. Foto: © Stephan Rabold
Klimawandel mit Mythos-Zugabe: Bernard Foccroulles „Cassandra“ an der Lindenoper Berlin
Nach 110 Minuten, in denen Gruppen des von Dani Juris einstudierten Staatsopernchors aus dem Zuschauerraum inszeniertes Missfallen artikulieren mussten, setzte der Beifall im bei weitem nicht ausverkauften Zuschauerraum mit erwartbarer Vehemenz ein, brachte aber dem Regieteam um die von Sandra Pocceschi einstudierte Inszenierung von Marie-Eve Signeyrole keine herausgehobene Begeisterung entgegen. Das hatte nichts mit der deutlichen, aber keineswegs geschärften Darstellung des Klimawandels in Wort, Musik und Bild neben Simultanszenen mit dem Cassandra-Mythos zu tun, sondern mit der gewerbsmäßigen Routine von Marie-Eve Signeyroles Regie.
Neben dem natürlich passenden, aus Brüssel, mit Ausnahme von Valdemar Villadsen, übernommenen Solistenensemble war vor allem die Staatskapelle Berlin der Star des Abends. Anja Bihlmaier nutzte am Pult alle Wirkungen, welche Foccroulles engagierte, bestechende und kristalline Edelpartitur ermöglicht. Die Katastrophen in der Familie der Klimaforscherin Sandra und ihres Vaters vollziehen sich zu einer gleißend schönen und intelligenten Instrumentation, welche das Wissen und Können nicht nur der gesamten Neuen Musik, sondern auch seit Wagner und Debussy aufzusaugen schien. Foccroulle kann äußerst wirkungsvoll für Stimmen schreiben, fast ohne diese mit Mitteln der erweiterten Tonproduktion zu fordern. Seine Kantilenen sind lang und tragfähig, die Deklamationsmomente arios verdichtet. So erweist Foccroulle sich in erster Linie als Klangmagier mit einer die gesamte Dauer tragfähigen Varianz und Kreativitätsfülle. Desto mehr fällt dagegen der bourgeoise Realismus von Signeyroles Personenführung ab.

Katarina Bradić (Cassandra). Foto: © Stephan Rabold
Fabien Teignés Bühnenbild greift so gut wie alle semantischen, musikalischen und textuellen Motive der Oper auf. Nur durch eine ansatzweise Archaik unterscheiden Yashis Kostüme die mythologischen Figuren der Seherin Cassandra, des Gottes Apollon und des trojanischen Königs Priam. Teigné setzt eine Wand mit Waben für das in drei Sätzen komponierte Verschwinden der Bienen. Als Material und auf Projektionsflächen sieht man die Zerstörung der antarktischen Eislandschaft neben den Andeutungen eines Studios und dafür deutlicher Ausstellung kostenintensiver Wohnkulturen.
Der Cassandra-Mythos über die Seherin, der niemand glaubt, hat Jocelyn in enge Parallelität zu einer Gegenwartshandlung gebracht. Sandras Liebhaber Blake ist Altphilologe und forscht über die Figur Cassandras bei Aischylos. Er kommt bei einer Schiffskatastrophe in der Antarktis ums Leben. Sandra räsoniert darüber, wie man die Mitwelt humorvoll für den Fakt des Klimawandels sensibilisieren könnte. Die mythischen Beziehungskonstellationen zu Cassandras Hellsichtigkeit und ihrer scheiternden Liebe zu Apollo sind in Parallele gesetzt. Sandras Schwester Naomi verliert ihr Kind, die Beziehungen zwischen Sandra und Drake bzw. Cassandra und Appollon haben analoge Scharten. Jocelyn bringt in einem relativ knappem Textvolumen erstaunlich viel Diskussionsstoff der Gegenwart unter – inklusive eines ästhetischen Exkurses darüber, ob humorvolle Mittel zur Darstellung der Klimakatastrophe zielführend sind.
Signeyrole bringt diese in Nähe eines dramatischen Essays geratende Doppelhandlung mit choreographischer Eleganz in Reihe und bleibt dabei ziemlich cool. Bewegung oder emotionales Engagement evozieren Signeyroles Abläufe nicht, die Spaltung zwischen Antike und Gegenwart bleibt schöne Absicht. Demzufolge gibt es vom Ensemble wenig performative und desto mehr vokale Individualität. Katarina Bradić überzieht die Titelfigur und deren Versehrtheit mit charismatischer Leuchtkraft. Jessica Niles singt Sandra auf imponierend sicherem Niveau, Sarah Defrise setzt die leidende Naomi affektiv. Die Männerpartien geraten gebrochener. Gidon Saks modelliert die Vaterfiguren als kantige Grandseigneurs, Joshua Hopkins einen gekonnt konturenlosen Apoll. Valdemar Villadsen gestaltet mit Drake einen sich zwischen Kinderwunsch und Klimawandel, Sein und Bewusstsein härmenden Zeitgenossen, der sich den Gewissensherausforderungen der Gegenwart zerreibt und deshalb kaum zu sich kommt. Dieses Figurenporträt zeigt, was aus dieser Premiere mit höherer Bereitschaft zum Kratzen am schönen Lack der routinierten Performativität hätte werden können. Dabei hätte Bernard Foccroulles Musik durchaus andere Angriffsflächen und dramatische Auslöser zu bieten als in dieser übernommenen Uraufführungsproduktion zu erleben waren.
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