Kaum fassbar aber wahr: Daniel Barenboim hat noch nie zuvor eine Oper von Giacomo Puccini dirigiert. Seine Annäherung an „Tosca“ passierte breit, unter Ausarbeitung trefflicher Details, wenn auch weitgehend zu laut – was aber für eine ausgezeichnete Sänger-Trias kein Problem darstellte.
Die szenische Interpretation durch den lettischen Schauspielregisseur Alvis Hermanis reihte zu seinen unzureichenden Opernarbeiten für die Staatsoper („Trovatore“) und die Komische Oper Berlin („Cosi fan tutte") eine weitere wenig befriedigende Lösung. Die permanente Doppelung projizierter szenischer Vorgänge und wenig gefüllter Aktionen auf der Bühne ging nicht auf.
Vorbild für die Nachfolge der 38 Jahre auf dem Spielplan der Staatsoper Unter den Linden gehaltenen Inszenierung von Carl Riha war offenbar die Bregenzer Seebühneninszenierung von Philipp Himmelmann und Johannes Leiacker, mit dem Einsatz wirkungsvoller, ergänzender Filmstreifen. Bühnenbildnerin Kristine Jurjane hat nunmehr für die am 17. Juni 1800 in Rom spielende Handlung die Bühne horizontal zweigeteilt. Auf der oberen Hälfte werden von ihr selbst geschaffene Comic Strips im Stil des 18. Jahrhunderts gezeigt, welche die mörderische Dreiecksbeziehung zwischen dem Maler Mario Caravadossi, der Diva Floria Tosca und dem Polizeichef Scarpia paraphrasieren.
Dabei hat Jurjane in Hunderten von Bildern die Projektionsfläche bisweilen noch in Dis- oder Triptychen unterteilt und so Teilaspekte der Handlung betont. Partiell hat die Malerin die Gesichter der Premierendarsteller zum Vorbild genommen, den Cavaradossi aber verschlankt idealisiert. Die Kinoleinwand verdoppelt so die Handlung. Zumeist erschlägt die animierte Tapete die darunter live stattfindende Personenführung.
Seltsame Reibungen entstehen, wenn die Bühnenbildnerin in ihren Projektionen historisierend klar macht, was der Regisseur ursprünglich offenbar zu inszenieren beabsichtigte, dann aber doch unterlassen hat – etwa dass der auf den Zeichnungen stets historische Allongeperücke tragende Scarpia die nackten Schenkel der Tosca umfasst. Dass Scarpia die Tosca schließlich auch im Spiel von hinten nehmen wird, verraten die Projektionen schon vor der Zeit.
Als Schauspielregisseur ist Hermanis der Schule Stanislawskis verpflichtet, aber in der Oper lässt er das kaum spüren. Zwar bewegt sich der aus der Haft entflohene Cesare Angelotti (Tobias Schabel) etwas gekrümmt, aber der Mesner (Jan Martiník) ist kein gefährlicher Denunziant, sondern ein pfeifender, sich rhythmisch schneuzender Komiker und auch der Kerkermeister (Grigory Shkarupa) ist ein gemütlich sein Butterbrot verzehrender, netter Zeitgenosse. Völlig misslungen ist die Erschießung Cavaradossis: anstelle des Erschießungskommandos greift der Gefängniswärter zur Pistole, schießt den Gefangenen in den Rücken und testet den Erfolg mit zwei Fingern an dessen Halsschlagader.
Barenboims konturierte Lesart kehrt hervor, wie Puccini die von seinen Librettisten Illica und Giacosa herausgestrichene politische Ebene des Vorlage-Dramas von Victorien Sardou durch motivische Arbeit wieder hereingeholt hat, etwa die durch das permanente, wenn auch häufig nur latente Thema Scarpias im Orchestersatz nachgezeichnete Situation des totalitären Überwachungssystems. Barenboim raut Puccinis Schönklang wagnerisch auf und macht in der Koloristik der Stimmen des anbrechenden Morgens (der in der Inszenierung leider bereits in gleißendes Licht gehüllt ist) sogar Parallelen zu Schönberg deutlich. Erfreulicherweise ist der Hirt – wie vom Komponisten vorgesehen – hier tatsächlich einmal mit einem Knabensopran besetzt (Jakob Buschermöhle, Solist des Kinderchors der Staatsoper). Die von Barenboim forcierten Wagner-Bezüge reichen von den Gralsglocken zum Glockengeläut der Kirche Sant’Andrea della Valle, oder von den obszönen Blechbläsereinsätzen im zweiten Aufzug der „Walküre“ zu jenen des zweiten „Tosca“-Aktes.
Michael Volle, der in dieser Woche von der Opernwelt zum „Sänger des Jahres“ gekürt wurde, gestaltet den Scarpia mit enormer Dynamik. Am Ende des von ihm als Lust auf die erzwungene körperliche Vereinigung mit Tosca konterkarierten Te Deums lässt Volle die Gebetbank unter sich beben und springen. Seinen Monolog am Anfang des zweiten Aktes gestaltet er als arrogante Selbstdarstellung gegenüber dem Schergen Sciarrone (Maximilian Krummen).
Die Wagner-Sopranistin Anja Kampe klingt jugendlich und frisch und zeichnet die unbegründete Eifersucht der Diva auf ihre Kollegin Attavanti glaubhaft. Erfreulich, dass das berühmte „Vissi d’arte“ der Tosca nicht als Bravourarie genommen und der oft zugunsten eines erwarteten Zwischenapplauses gestrichene Dialog im Nachspiel hier zu hören ist. In dieser Szene gewinnt die Personenführung das erste und einzige Mal Dominanz gegenüber der Projektionsebene auf der Filmleinwand. Anja Kampe nimmt die Bravourarie nicht als Gebet, sondern richtet das „Singore“ an Scarpia, den sie – bereits in der Absicht, ihn mit dem Obstmesser zu ermorden – liebkosend verführt. Dessen schriftliche Zusicherungen der Scheinerschießung ihres Geliebten und ihrer gemeinsamen Ausreise forciert sie nachdrücklich durch leidenschaftliche Küsse. Da sie durch das Eintreten von Spoletta (Florian Hoffmann) die Mordwaffe noch einmal ablegen muss, bietet sie sich dem Polizeichef, um ein zweites Mal ans Messer zu kommen, auf dem Schreibtisch rektal an. Am Ende springt sie nicht in den Tod, sondern steht mit ausgebreiteten Armen, wie ein Friedensengel, in einem rechteckigen Spot. Nicht nur im a cappella-Duett des dritten Aktes ist ihr der italienische Tenor Fabio Sartori ein adäquat stimmgewaltiger Partner.
Applaus für den vom Regisseur als Gegenprozession geführten Chor (Einstudierung: Martin Wright) und den eher dünnen Kinderchor erfolgte bereits nach dem ersten Akt. Am Ende kräftiger, aber kurzer Applaus für die Staatskapelle, Daniel Barenboim und die drei Hauptsolisten; verhaltene Buhrufe fürs Regieteam verdeutlichten die Enttäuschung des Publikums über diese Neuinszenierung.
Weitere Aufführungen: 6., 12., 16., 19., 22. und 25. September 2014.