Eigentlich logisch: als sich der Vorhang im Musiktheater im Revier hebt, gehen die Blicke erst mal in die Höhe. Die Handlung spielt ja schließlich zu einem großen Teil im Dachgeschoss einer spartanischen Künstler-WG. Und das befindet sich definitionsgemäß natürlich nicht im Erdgeschoss. In Gelsenkirchen thront es mittig auf der großen Drehbühne auf einem Kubus, der sich im weiteren Verlauf als jenes Lokal herausstellt, in dem die Bohème gerne verkehrt. Insgesamt entsteht so ein erstaunlich vielseitiges Multifunktionsmöbel, das je nach Drehung der Bühne (Britta Tönne) verschiedenste Funktionen erfüllt und so ständig im Zentrum der Inszenierung von Sandra Wissmann steht. Ein bisschen Schnee dabei – und fertig ist die winterliche Kulisse für das Künstlerdrama schlechthin.

La Bohème in Gelsenkirchen. Khanyiso Gwenxane, Heejin Kim. Foto: Pedro Malinowski
Künstlerdrama mit Multifunktionsmöbel – Puccinis „La Bohème“ im MiR in Gelsenkirchen
Bei Puccini ist die frierende „Crème de la Crème“ der brotlosen Kunst versammelt, der gierige Vermieter steht ausgerechnet Heiligabend vor der Tür der notorisch klammen WG und das tragische Schicksal klopft auch noch an. Es sind schon eine Menge Klischees, die hier aufgetischt und in dieser Inszenierung ebenso schnörkellos wie direkt in Szene gesetzt werden. Dramaturgisch konzentriert Wissmann die Handlung auf den Punkt, macht keine inszenatorischen Experimente, sondern bringt mehr oder weniger auf die Bühne, was Puccini an Drama bietet. Das könnten Verfechter eines intellektuellen Regietheaters unter Umständen eindimensional nennen oder unterkomplex, allerdings hat es auch einen gewissen Charme, dass eine Inszenierung sich auf das beschränkt, was im Stück steht – auch wenn es zuweilen etwas aus der Mode gekommen zu sein scheint.
Dabei kommt ihr das ausgezeichnete Ensemble zu Hilfe, das in Gelsenkirchen ausschließlich mit hauseigenen Kräften besetzt ist. Die Protagonisten spielen ihre Figuren ebenso authentisch wie nahbar. Als Publikum muss man hier geradezu mitfühlen, was besonders das dramaturgisch verdichtete Ende der Oper sehr zu Herzen gehen lässt. Denn das Klischee vom brotlosen Künstler ist ja erwiesenermaßen längst nicht so klischeehaft wie es zuweilen scheint. Zwar weiß man schon, wie die Oper ausgehen wird, trotzdem hat Mimis Tod aber eine geradezu erschütternde Wirkung. Am Ende stehen die Protagonisten scherenschnittartig in der Finsternis, nur die Umrisse sind noch erkennbar. Ein starkes Bild. Die realitätsnahe Gestaltung des Dramas macht nicht nur hier Eindruck.
Darstellerisch und musikalisch ist der Abend sehr stimmig. Herausragend ist Benedict Nelsons Marcello: sonor, durchsetzungsstark aber nie forciert, ein Bilderbuchbariton. Auch Yancheng Chen weiß als Schaunard zu überzeugen. Das Mitglied des Opernstudios NRW spielt und singt seine Rolle ebenso kultiviert wie engagiert, ein Gewinn für das Ensemble. Khanyiso Gwenxane als heißblütiger Rodolfo und Heejin Kim als Mimi sind ein Traumpaar, auch wenn Kim sich zu Beginn zunächst etwas freisingen muss, bevor ihre Stimme den ihr eigenen Charme entfalten kann. Margot Genet gibt die Musetta ebenso kapriziös wie glanzvoll und auch die weiteren Rollen, als da wären Colline (Philipp Kranjc), Benoit / Alcindoro (Urban Malmberg) sowie Parpignol (Jin-Chul Jung) sind ausgezeichnet besetzt. Chor, Extrachor und der Kinderchor des MiR sorgen für turbulente und eindrucksvolle Massenszenen, auch wenn sich hier und da manches Detail noch etwas zurechtruckeln muss. Bleibt zu guter Letzt noch die Neue Philharmonie Westfalen, die von Giuliano Betta geleitet wird. Betta entfacht alle Reserven des Orchesters und treibt es bis zum Äußersten. Das gelingt über weite Strecken formidabel, es gibt viele Momente und Szenen, in denen glutvoll, leidenschaftlich und exzellent musiziert wird. Nur gelegentlich wird es ansatzweise schrill. Hier droht die Orchestermaschinerie fast zu überdrehen. Aber zum Glück nur fast.
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