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Lebendig ist, wer wach bleibt

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Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken
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Als 1961 in Venedig Luigi Nonos szenische Aktion „Intolleranza 1960“ uraufgeführt wurde, gab es einen weltweit Aufsehen erregenden Skandal, der im politisch aufgeheizten Italien dieser Zeit freilich offenbar inszeniert war. Ein Komponist, der sich zum Kommunismus bekannte, wagte es, ein Musiktheaterwerk zu schreiben und dabei auch noch aktuelle Ereignisse heranzuziehen: Nono nahm Ereignisse des Jahres 1960 zum Vorbild, durch die er seinen Protagonisten jagt. Auch die politischen Parolen der Demonstration, in welche die Hauptfigur, ein Flüchtling, gerät, sind in der Uraufführungszeit verankert: „Morte al fascismo!“, „No passeran!“, „Down with discrimination!“, „La sale guerre“, „Libertá ai popoli!” skandiert der Chor. Von dieser Sprengkraft hat das Werk heute nicht mehr allzu viel, und doch wurde es in Deutschland gerade in den letzten Jahren relativ häufig inszeniert. Die zentrale Frage dabei war immer: Wie kann man dieses Stück einem Publikum näherbringen, das in einem ganz anderen politischen Kontext lebt?

Christian Pöppelreiter entschied, das Stück nicht in einen tagesaktuellen politischen Kontext zu versetzen, sondern fasste die Handlung als eine allgemeingültige Parabel auf. So bleiben bei der Demonstration des ersten Aktes die Transparente der Demonstranten leer und schwarz; weder Kostüme noch Ausstattung lassen Rückschlüsse auf eine zeitliche Verankerung zu. Alles ist kalt und leer, schwarz ist die dominierende Farbe. Anonym sind die Opfer, anonym die Helfer der Unterdrückung, beide Gruppen gleich gesichtslos.

Daniel Libeskind hat eine expressive Bühnenskulptur entworfen, die an das Jüdische Museum in Berlin erinnert. Ein verzerrter Quader schiebt sich mit aller Gewalt in den Raum. Darüber streckt sich drohend ein verzerrtes Trapez. Die Skulptur ist so raumgreifend, dass sie die Protagonisten, egal ob Opfer oder Helfer der nie selbst auftretenden Machthaber, zu erdrücken droht. Als es dem Flüchtling gelingt, aus der Folterhaft auszubrechen und in die Freiheit zu entkommen, fährt das Bühnenbild in die geöffnete Hinterbühne zurück; die weichende Bedrohung ist körperlich nachzuempfinden. Und am Ende, wenn die Skulptur als „Flutwelle“, die den Flüchtling und seine Gefährtin verschlingen wird, langsam wieder nach vorne rollt, will man unwillkürlich zurückweichen.

Pöppelreiter nutzt den zunächst deutlich begrenzten Raum geschickt, indem er einen Bewegungschor neben den Sängern auftreten lässt. Schwarz gewandete, charakterlose Gestalten, die unfähig sind, die Geschehnisse zu ändern. Der singende Chor, teils kommentierendes, teils agierendes Kollektiv, sitzt links und rechts über dem Orchestergraben. Pöppelreiter konzentriert sich auf die Konflikte des Flüchtlings, verwendet viel Aufmerksamkeit auf dessen Begegnungen mit den beiden Frauen. Das Ausbrechen aus der anonymen Gesellschaft wird durch Kostüme symbolisiert, die sich schleierhaft, Vogelfedern gleich, über die Grundkostüme der Figuren legen. Der Wunsch in die Freiheit zu fliegen – ein Traum?

Das Aufeinandertreffen des Flüchtlings, seiner Gefährtin und seiner Frau ist in Pöppelreiters Sicht offensichtlich eine Kernszene. Gänzlich verzichtet wird auf die „Projektionen des Schreckens und des Fanatismus“, das dazu komponierte Schlagzeugintermezzo deutet Pöppelreiter szenisch als Auseinandersetzung der zwei Frauen um den geliebten Mann. Der Ausruf „Nie! Nie wieder!“ ist nicht mehr nur gegen die Unterdrückung der Nazis zu verstehen, vielmehr schleudert der Flüchtling ihn seiner ehemaligen Frau entgegen – ein endgültiges Zeichen der Trennung, das fatalerweise im Privaten ebenso bösartig wirkt wie die öffentliche Unterdrückung von außen. Ist der Unterdrückung überhaupt zu entgehen? Holt sie uns nicht immer wieder ein, ist sie nicht zwangsläufig Folge des Zusammenlebens von Menschen? Unangenehme Fragen stellt die Inszenierung an Nonos Stück, das dadurch ganz neue Aspekte gewinnt.

Erstaunlich und bemerkenswert, was der junge Dirigent Constantin Trinks mit den Kräften des Dreispartenhauses musikalisch vollbringt. Der zweite Kapellmeister nimmt sich viel Zeit für Nonos Partitur, horcht den Klängen oft nach, lässt gerade die leisen Stellen fein differenziert erklingen. Der Chor, zuverlässig von Andrew Ollivant einstudiert, entledigt sich seiner Aufgabe sensationell gut; das Orchester folgt Trinks mit dem denkbar größten Engagement, reizt die starken Kontraste zwischen zarten und heftig brutalen Momenten voll aus. Völlig zu Recht ist Trinks mit seinen Musikern und Sängern am Ende der meiste Applaus gegönnt. Doch auch die Sänger können sich hören lassen. Allen voran Stefan Vinke: Spielt er den Flüchtling bisweilen etwas täppisch, so stürzt er sich andererseits mit Verve in Nonos tenorale Höhenflüge. Wenige dürften diese Rolle derzeit auf vergleichbarem Niveau singen können. Ihm zur Seite stehen mit Manou Walesch (Frau) und Donna Ellen (Gefährtin) zwei intensive Singschauspielerinnen. Hiroshi Matsui weiß den kurzen Auftritt des Gefolterten zu einem eindringlichen, berührenden vokalen Höhepunkt zu machen.

Das kontinuierliche Engagement des Theaters für die zeitgenössische Oper zahlte sich jetzt aus, ebenso wie der Nono-Schwerpunkt, den der Verein „Netzwerk Musik Saar“ in der vergangenen Saison gestaltete. „Intolleranza 1960“ ist in der auf ihre Art radikalen Sicht von Constantin Trinks, Christian Pöppelreiter und Daniel Libeskind im Saarbrücker Repertoire angekommen. Erfreulich, was ein Stadttheater zu leisten imstande ist.

www.staatstheater-saarbruecken.de

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