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Noah Schaul (Tobias Ragg), Chor des Theater Lübeck. Foto: Olaf Malzahn

Noah Schaul (Tobias Ragg), Chor des Theater Lübeck. Foto: Olaf Malzahn

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Lübeck: Stephen Sondheims „Sweeney Todd“, ein schauerlicher Racherausch, wirkungsvoll untermalt

Vorspann / Teaser

Wer das Makabre liebt, ist im Theater Lübeck für etwas weniger als drei Stunden gut aufgehoben. Es ist eine reizende Vorübung auf das Ende des Monats mit Halloween und Grusel. Denn dort an der Beckergrube treibt Barbier Benjamin Barker seit dem 14. Oktober 23 sein effizientes Gewerbe. Er, der aus Australien Heimgekehrte, besteht allerdings heftig darauf, Sweeney Todd genannt zu werden, weshalb Tonschöpfer Stephen Sondheim sein bewundernswert intelligentes Musical auch so betitelte. 
 

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Auf jeden Fall ist Sweeney ein gar nicht so ferner Kollege von Mackie Messer, skrupellos und clever wie er, nur mit anderer Geschäftsidee. Aber beide verstehen verteufelt gut, ihr Werkzeug schnittsicher ein- und anzusetzen, weshalb das Lübecker Programmheft noch den Untertitel im Original beifügt. Klein, fast schüchtern steht da „The Demon Barber of Fleet Street“, dennoch hatten die Theaterleute sich für die manchmal etwas platt wirkende deutsche Fassung von Wilfried Steiner und Roman Hinze entschieden. Sei’s drum, auch wenn die Masse der Besucher, die erwartet wird, wohl eher auf englische Songs dressiert ist. Dem entgegenzukommen war die Mikroport-Anlage einfach nötig. Dennoch zauberte Nathan Bas, neuer zweiter Kapellmeister, mit den Lübecker Philharmonikern sehr sublime Klänge, bei denen sogar die Sänger eine Chance zu differenzieren hatten. Reizende Duette entstanden, wenn lustvoll von der Liebe gesungen wird, etwa von der zur Pastetenbäckerei und welche Geschmacksvarianten sie je nach Zutat bieten kann. Es ist nicht egal, ob die von einem fetten Pfaffen stammte, fad durchs Zölibat, oder von einem Säufer mit dem Geschmack nach Gin. Jedenfalls ist der Zuhörer nicht von der Übertitelungsanlage irritiert und bekommt den Text dennoch leidlich mit. Etliche Sänger können nämlich auch sprechen, transportieren sogar beim Singen den Gehalt der Sprache. Nur bei Chorpassagen schaffen die Lautsprecher es einfach nicht, alles zu verdauen. Da wird das Libretto selbst zum ohrgängigen Pastetenbrei.   

Fein inszeniert

Erfreulich bunt und zügig war alles inszeniert, zumal Werner Sobotka ein großes Gefühl für rhythmisch gefügte Gesten hatte, für die Wirkung von Auftritten und der von Gruppen, wobei Natalie Holtom mit choreografischem Witz unterstützte. Betrat man den Theaterraum, stellte sich der Eindruck ein, die feinen Jugendstil-Elemente an den Balustraden des Lübecker Theaterbaus seien zu schützen. Bühnenbildner Stephan Prattes hatte sie sorgfältig, wie auch die Bühne, mit Folien abgehangen und  verband so den Zuschauerraum mit der Bühne. Das führte dazu, dass auch Mitwirkende sich schon einmal in den Zuschauerraum verirrten. Dazu gehört der Gehilfe Tobias Ragg, der ob des Gesehenen am Ende wahnsinnig wird und schlussendlich bewirkt, dass über Sweeney Todd nichts mehr zu berichten ist. Dazu gehört auch die überall bettelnde Lucy, deren herzbewegendes Schicksal erst das Finale lüftet. Aber man fand es wichtig, den feuchten Nebel, den Qualm aus dem Backofen und den roten Lebenssaft, der weidlich floss, von den Wänden abzuhalten. Es ist ja schließlich London und der Rachefeldzug eines Frisörs im Blutrausch und dazu eine grandiose Geschäftsidee, Leichen gewinnbringend zu verarbeiten – mit dem Nachteil bei diesem letzten Akt, dass das für eine Pastete nicht geeignete Material in dem rauchenden, stinkenden Ofen entsorgt werden muss. Wer da an Ausschwitz denkt oder an das, was am Abend vorher die Nachrichten an Schaurigem verkündeten, sollte dieses makabre Spiel lieber doch nicht besuchen.

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Laurence Kalaidjian (Anthony Hope), Simon Rudoff (Ein Vogelhändler). Foto: Olaf Malzahn

Laurence Kalaidjian (Anthony Hope), Simon Rudoff (Ein Vogelhändler). Foto: Olaf Malzahn

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Denn Sweeney Todd entstammt einem schwarzen Musical, das nun vor fast einem halben Jahrhundert das Schauergenre wiederbelebte. Die geballte Gruselei hatte schon immer fasziniert, in Moritaten, Groschenheften oder, expandierter, in Schauerromanen. Man darf zurückblicken, auch noch einmal auf den schon erwähnten Mackie. Er ist ein Gentlemankiller, war in Soho aktiv, diesen aber, den bodenständigen, doch versierten Barber mit unbezwingbarer Rachgier, zog es nach seinem Auslandsaufenthalt zurück in die nicht weit entfernte Fleet Street, in der jetzt sinnigerweise Anwalts- und Gerichtskanzleien residieren. Einst war diese Straße Synonym für Presseerzeugnisse, wo wohl „The Sun“ das Schauerlich-Schöne exquisit ins „Bild“ setzen würde, besonders das von einem Virtuosen im Kehlkopfschnitt. Eigentlich nicht verwunderlich, war er als Barber doch prädestiniert dafür und immer nahe dran. Exzellent allerdings, dass er eine mordsmäßig clevere Partnerin fand. Sie hatte die Idee zum Joint-Venture, um ihre Pastetenbäckerei im gleichen Haus mit billig erworbenem Fleisch zu beleben, das er mit Hilfe eines sinnig erfundenen Rasierstuhl-Mechanismusses und einer Luke im Boden von oben herab lieferte. Beides brachte Stephan Prattes in dem größten, doch schäbigsten Bühnenbau auf der Drehbühne übereinander unter. Nur zwei „Gebäude“ gab es noch, das sehr durchsichtige Haus des Richters Turpin mit Dachbalkon und einem Thronsessel darunter und später das „Privatheim“ von Mr. Fogg, ein grausam enger und zugiger Lattenverschlag. Das genügte anschaulich, da Falk Hampel alles facettenreich beleuchtete.

Was Richter so können

Was zunächst aus Wut und Rache begann, verselbständigte sich. Das kam so: Benjamin Barker war einst ein tüchtiger Kollege vom Barbier aus Sevilla, konnte auch Zähne ziehen. Sein Verderben wurde, dass er eine schöne Frau hatte und jene Lucy dem gewissenlosen Richter Turpin gefiel. Der wiederum fand einen justiziablen Grund, den Ehemann zu verbannen und sich der Frau zu bedienen. Wie, darüber schweigen wir hier, aber es war sogar öffentlich. Lucys Baby nahm er ihr weg und sich als Mündel. Lucy dagegen, ihm binnen kurzem überdrüssig, schickte er auf die Straße. Sie verwahrloste, nur das Mündel wuchs heran, wurde hübsch und entzündete Turpins Lust erneut. Wie aus Sevilla bekannt, fand Johanna jedoch an einem Jüngeren Gefallen, der hier nicht Almaviva, sondern Anthoney hieß, sogar mit dem sprechenden Nachnamen Hope. Als Matrose hatte er schon Benjamin Barker aus Seenot gerettet, als der mit ihm nach 15 Jahren zurückkehrte. Damit begann das Drama, dessen ganzes Ausmaß der Barber zunächst nichts wusste. Er konnte seinen alten Beruf am gleichen Ort beibehalten und nach und nach der vor Rache berstende Sweeney Todd werden. Das verursachte einige Unruhe, anfangs nur bei jener Mrs. Nelly Lovett, der erfolglosen Pastetenbäckerin. Sie hatte ihn wiedererkannt, gab ihm hoffnungsfroh seine alte Bleibe im Obergeschoss und ein ebenso altes Rasiermesser zurück, das sie ihm aus Zuneigung aufbewahrt hatte. So ausgerüstet konnte Sweeney Todd nun seinen Ruf zurückerobern, so dass für beide die Verhältnisse umgehend besser wurden. Sie verarbeitete seine Probleme, die aus seiner Rachsucht entstanden, und er lieferte ihr günstig die Zutaten für ihr Gewerbe, was auch anderswo als merkantiler Interessenausgleich gut funktioniert.

Der Abend wäre kurz gewesen, wenn Sweeney Todd schon am Ende des ersten Aktes seine Rache an Richter Turpin befriedigt hätte, der als fieser Lüstling und schlimmer Rechtsverdreher von Steffen Kubach mit kühler Grandezza gezeichnet wurde. Soviel sei verraten, dass es noch einen zweiten Akt gab, mit manchen Schwierigkeiten wie oben angedeutet. Die Handlung ist wegen der zahlreichen mörderischen Einfälle jedenfalls nicht erahnbar. Sie hält wach, auch wegen der umfangreichen Zahl von Mitwirkenden, die mit größter Freude am Makabren bei der Sache waren. Das begann natürlich mit dem Joint Venture-Paar, mit dem fast zu sympathischen, doch stimmgewaltigen Patrick Stanke als Sweeney Todd, der lachen, aber auch seine Wut herausschreien konnte, und dann mit der gewieften Mrs. Nellie Lovett, die Carin Filipčić mit Lust auf Sweeney und an Tanz und Spiel verkörperte. Gesanglich wechselte sie wunderbar zwischen Quäkerei und verführerischer Weichheit, zudem hatte ihr Kostümbildnerin Elizabeth Gressel besonders geschickt schickliche Kleider so angepasst, dass sie den Geschäftserfolg unterstrichen, doch Todd standhaft bleiben ließen.

In zweites Paar

Das Gegenstück war das herzhaft naive junge Paar, Johanna und Anthony. Bei stimmungsvollem Vogelgezwitscher und auf einem Balkon, der auch der Veroneserin Julia gut gestanden hätte, zog Elvire Beekhuizen als Todds leibliche Tochter Johanna das Mitleid auf sich, so wie Laurence Kalaidjian es als idealistischer Anthony tat. Wie einst Romeo oder auch Papageno schmachtete er: „Ich fühl‘ dich, Johanna!“. Aber solch köstliches Liebesleid gehört als Erholung vom Düsteren ebenso dazu, wie die Komik der Szenen mit Pirelli oder Beadle Bamford. Der eine, Sweeneys beruflicher Konkurrent und Erpresser, wurde köstlich und notwendigerweise überdreht von Franz Gürtelschmied gesungen, der andere, Gustavo Mordente Eda als Turpins loyale Hand, durfte gelassen und stattlich sein, auch von Stimme und Statur. Wenig Bedauern hatte der Zuschauer mit deren Schicksal, auch nicht mit Mr. Fogg, alias Thomas Stückemann. Er war Besitzer jenes „Privatheims“ für die, die Turpin als Irre wegsperrte, eine Blaupause für spätere Nachahmer, denn so politisch kann ein Musical sein! Anders war es mit Andrea Stadel, die verachtete und verstoßene Bettlerin mit ihrem herzzerreißenden Werdegang, sowie mit Noah Schauls Tobias Rogg, dem erbärmlich Herumgestoßenen mit großem Beschützerinstinkt. Für beide wurde viel Mitleid und Bewunderung für ihr Spiel laut. Das traurige Arsenal von ebensolchen Gestalten vervollständigte der Chor des Theaters, grandios und sicher mitspielend und ebenso musikalisch einstudiert von Jan-Michael Krüger. 

Wer wollte sich nach dieser Vorstellung über den langen Jubel wundern?

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