Patrick Lange eilt auf die Bühne der Kölner Philharmonie. Er hat das neue Violinkonzert von Detlev Glanert dirigiert und nach der Pause Johannes Brahms‘ Klavierquintett op. 25 in der Orchesterbearbeitung von Arnold Schönberg. Noch immer braust der Beifall des Publikums, der Saal erklatscht sich die zweite Zugabe des Abends. Auch die jungen Musikerinnen und Musiker des Bundesjugendorchesters trampeln mit den Füßen, hämmern auf die Kontrabässe. Sie würden gerne sitzen bleiben, um ihrem Dirigenten zu danken, aber der stupst den Konzertmeister Johannes Braun von seinem Sitz, und sofort stehen sie alle, bereit, mit einem Notenblatt in den Händen. Lange hebt die Hände, der Saal verstummt, und nun singt das ganze Orchester vierstimmig zwei Strophen „Guten Abend, gute Nacht“, eine leiser als die andere. Ein unendlich berührender Moment, manch‘ Auge wird feucht. Nichts streichelt die deutsche Seele so sehr wie ein Schlaflied, stamme es aus dem Volksmund, von Humperdinck oder eben von Brahms. Wir wähnen uns darin geborgen vor all den Auokraten, die nicht aufhören wollen, Frieden und Freiheit mit Füßen zu treten.

Immer am Limit: das Bundesjugendorchester. Foto: Selina Pfrüner/BJO
Nichts für Verfechter der Work-Life-Balance
Zwei Tage zuvor haben sich Bundesjugendorchester (BJO) und Patrick Lange im Sendesaal des WDR getroffen, um Glanerts Violinkonzert und das Brahms/Schönberg-Werk aufzunehmen. Das Programm präsentieren sie auf ihrer Frühjahrstournee in Baden-Baden, in Köln, Wiesloch, Osnabrück sowie zweimal in Berlin.
Für drei Projekte jährlich opfern die 14- bis 19-jährigen Orchestermitglieder ihre Schulferien (und in der Regel auch ein paar Tage darüber hinaus), um zum Jahreswechsel, im Frühjahr und im Sommer ihrem Traum des Musikerberufs näher zu kommen. Der Deutsche Musikrat, Träger des BJO, weiß, dass die Leidenschaft für eine Musikerkarriere im Jugendorchester extra befeuert wird. Wie die Profis finden die Schülerinnen und Schüler für eine kompakte Probenphase zusammen und reisen anschließend durch Konzerthallen des In- und Auslands. In diesem Jahr führte die Wintertournee mit Wayne Marshall nicht nur in die Elbphilharmonie und den Wiener Musikverein, sondern auch durch sechs Städte in Großbritannien, darunter London, Birmingham und Edinburgh. Die meisten spielen drei Jahre im BJO, jedes Jahr treten einige aus, andere absolvieren ein Vorspiel und rücken nach, so dass in jedem Konzert Novizen neben erfahrenen BJO-Mitgliedern sitzen. Dank dieses Rotationsprinzips fängt das Orchester nie bei Null an. Stattdessen profitiert es von Tandem-Lerneffekten, wie jedes Profiorchester, wo Akademisten neben langjährigen Kollegen sitzen.
Brücken bauen
Solistin der Frühjahrstournee ist die japanische Stargeigerin Midori, die die Zusammenarbeit mit jungen Musikerinnen und Musikern gezielt fördert. In Japan und in den USA, wo sie an der Juilliard School ausgebildet wurde, gründete sie verschiedene Organisationen, mit denen sie Brücken baut. „Im Rahmen von Music Sharing bieten wir in Japan Kurse für Studierende an, um sich zu spezialisieren“, erläutert die Geigerin im Gespräch. „Wir wollen junge Musiker in Kontakt bringen mit Kindern, die es ansonsten schwer hätten, Zugang zur klassischen Musik zu bekommen, Kinder mit Beeinträchtigung zum Beispiel. Außerdem besuchen wir Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Orte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Hinter allen Organisationen, die ich gegründet habe – auch Midori & Friends in den USA –, steht der Glaube daran, dass Musik Menschen einander näherbringen kann.“ Über die Zusammenarbeit mit dem BJO schwärmt sie: „Die Arbeit mit jungen Menschen inspiriert mich, weil sie mit viel frischer Energie an ein Projekt herangehen. Ich freue mich immer darauf, sie bringen mich auf neue Ideen. Speziell beim Bundesjugendorchester spielen ausgezeichnete Musikerinnen und Musiker mit größter Konzentration.“
Das Kölner Konzert besuchen auch viele Ehemalige des BJO. Der Altersschnitt im Publikum ist halb so hoch wie bei einem herkömmlichen Abonnementkonzert, es herrscht die fröhliche Stimmung der Wiederbegegnung. Bei den zeitgenössischen Klängen von Glanert aber wird es andächtig still. Glanert nimmt den berühmten Beethoven-Brief „An die unsterbliche Geliebte“ als atmosphärischen und strukturell maßgeblichen Ausgangspunkt für sein dreisätziges Werk. Der Komponist orientiert sich mit den Verfahren von Sequenz und Abspaltung an Beethovens Grammatik. Daraus gewinnt er, ebenfalls in der Nachfolge des klassischen Vorbilds, Energieschübe, geht aber nicht in die Falle neoklassizistischer Motorik. Midoris Spiel ergänzt mit attackierendem, nie ungefährem Ton, den sie bei Bedarf auch in somnambule Sphären abdämpft. Ein auf kluge Weise Rückschau haltendes, gut zu hörendes Werk, das im Repertoire überleben könnte.
Feuer auf den Pulten
Schönbergs Bearbeitung gilt als inoffizielle „fünfte Symphonie“ von Brahms. Hier zeigt sich, was ein Jugendorchester zu leisten in der Lage ist: Die Musikerinnen und Musiker des BJO spielen mit einem Feuer, als würden sie an Harrison Fords Dschungel-Abenteuer denken, während auf ihren Pulten „Der Jäger des verlorenen Schatzes“ liegt. Kein Wunder: Schönberg konnte im Kompositionsjahr 1937 auf eine vierzigjährige Erfahrung mit dem Orchesterklang zurückblicken. Der wusste, wie man jedem Instrument eine interessante Stimme schreibt und keinen „Rhabarber-Kontrapunkt“, wie der begnadete Polemiker es 1933 in seinem Essay über Brahms treffend ausdrückte.
Gesundheitlich fordernd
Das BJO verweist stolz darauf, dass 80 Prozent der Orchestermitglieder später die Laufbahn des Profimusikers einschlagen. Ein schöner, ein fordernder Beruf. Nichts für Verfechter der Work-Life-Balance. Und im höchsten Grade gesundheitlich fordernd. Das Management weiß das und bereitet seine Musikerinnen und Musiker auf Strategien vor, Haltungsschäden vorzubeugen.
Auch Dirigent Patrick Lange weiß das. Er hat schon mehrfach mit dem BJO gearbeitet, das Orchester setzt ihm einen Dirigenten-Teddy als Talisman neben das Podium. In der fordernden Aufnahmesitzung im WDR lässt er die jungen Leute schon einmal aufstehen und sich strecken. Und er lässt sie gemeinsam singen.
Sollte in 15 Jahren ein anderer Dirigent bei einem anderen Projekt auf eine ähnliche Idee kommen, so mögen sie, so viel Utopie darf sein, nicht nach Zulage fragen.
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