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Zwei "Farben" gibt es auf dier Bühne: Schwarz und Rot. Rot ist nur ein kopfüber von der Decke hängendes Pferd und ein Mantel, den der Sänger zu beginn noch trägt, der auf diesem Foto aber bereits auf dem Boden liegt. Alles andere (Streicher und Sängerin) trägt Schwarz.

„Kill Krieg – eine Gala“ von Marc Sinan und Lydia Haider. © Thomas Müller

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Plausible Beschimpfungsgala: Marc Sinans „Kriegsweihe" und „Kill Krieg" beim Kunstfest Weimar

Vorspann / Teaser

Beim Kunstfest Weimar ist vieles möglich – sogar ein kleiner Tross, der einem künstlichen Pferd auf Rollen folgt. Aus Lautsprechern tönen pazifistische an Installationspunkten Klagen und Rufe, aus dem Pferd fallen rosa Papierkugeln mit bitteren und hoffnungsvollen Texten. Und am Abend bei „Kill Krieg" von Marc Sinan und Lydia Haider im DNT wird der Krieg ordentlich beschimpft. Ein gewichtiger schwarzer Punkt des Weimarer Sommers 2023.

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Kann und soll man den Krieg wie eine Person beschimpfen? Es geht. Motorisch, rituell und grell. Das beweist die Sängerin Jelena Kuljić genau in der Mitte des Kunstfests Weimar auf der ziemlich dunklen Bühne des Deutschen Nationaltheaters – wenn nicht alles täuscht mit jiddischem Einschlag. Die Patchwork-Gala „Kill Krieg“ mit vorausgegangener Mehrfach-Prozession zu verschiedenen Stellen im Stadtraum wurde am ersten September-Sonntag von kriegsfern üppiger Sommersonne beschienen. Deren kreative Köpfe sind die Autorin Lydia Haider und der Komponist Marc Sinan. Patchwork war auch die Entstehung. Diese begann schon längere Zeit vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, erhielt also durch diesen den unerwarteten Aktualitäts- und Dringlichkeitsschub. Sinan hatte sich an Haiders Text „Wahrlich fuck you du Sau, bist du komplett zugeschissen in deinem Leib drin oder: Zehrung Reiser Rosi. Ein Gesang“ (2018) inspiriert. Sie ist in diesem Poem etwas gröber als Elfriede Jelinek, aber auch etwas lyrischer. Und Sinan ist – wie er bei jedem Projekt beweist – gierig nach neuen, unerwarteten Sparten-Mischungen. Erst gegen Ende der Probenzeit war die Mitwirkung des Ensembles Metamorphosis und vor allem des Kviv Symphony Orchestra gesichert. Kunstfest-Leiter Rolf C. Hemke und DNT-Intendant Hasko Weber denken über ein Ko-Projekt zum traditionellen Buchenwald-Konzert in den Folgejahren nach.

Wer dabei war, könnte Haiders lyrische Schimpftiraden mit Strophen-Wiederholungen wie aus einer Rosenkranz-Spirale als Gesellschaftswinter-Austreibung betrachten. Kuljic deklamiert, rhapsodiert, insistiert. Aber sie klagt und jammert nicht. Ihr sekundiert der Schauspieler Julian Mehne mit Wort und Tanz. Sinans Partitur ist wohl am ehesten eine Chanson-Kantate mit opulenten Instrumentalzwischenwürfen und symphonischem Finale. Der Klavierpart von Magdalena Cerezo wirkt fragmentiert und bänkelhaft, gerade deshalb essenziell. Metamorphosis macht klangvolle Akkord-Flächen mit vollem Schöngang.

Die Prozession „Kriegsweihe“ fand im Freien statt. Einige Stationen ereignen sich auch separat an anderen Kunstfest-Tagen und sollen hundert Jahre später an die Große Bauhausausstellung 1923 erinnern. Das Kriegsdenken, Be- und Abschwören wird in die Mitte der Weimarer Bürgerschaft und ihrer Kunstfest-Gäste hineingetragen. Man hatte es mit einem kleinen Kreis singender und stummer Protagonist*innen in Berlin vorgeprobt. Schon am Bahnhofsvorplatz mikrofonierte eine Männerstimme aus dem schwarzen Pferdekorpus auf Rädern gegen den Krieg. Der Tross setzte sich in Bewegung – einige Kinder in schwarzen Tanzkleidern daneben. Aus dem hinteren Pferdeteil tropften zerknüllte Blätter mit pazifistischen Texten. Installationsmodule ereigneten sich beim verhängten Goethe-Schiller-Denkmal am Theaterplatz, beim Gauforum und mit einem Kahn auf dem Bach im Weimarhallenpark. Die Atmosphäre ist intensiver als die Texte und Musikbeiträge. Spannend sind die Mischungsverhältnisse zwischen den „Kriegsweihe“-Prozessionen, bei denen zwischen zehn und dreißig Passant:innen zu einem Teil oder die 90 Minuten vollständig mitwandeln, zur still heiteren Ausgelassenheit in der vollen Stadt. Weimar während seiner fünften (Kunstfest-)Jahreszeit bedeutet Sonnenstühle, Aktionsgruppen-Stände für die Ukraine und GLBT. Am Abend nach der Kill-Krieg-Gala fluten Tango-Paare den Theaterplatz. Die Münchner Opernfestspiele haben einen eigenen Gottesdienst und Weimar dieses Jahr mit „Kill Krieg“ eine säkulare Antikriegsmesse, die dem Festival weitaus besser ansteht als zum Beispiel der salonrevolutionäre Anstrich von Johann Sebastian Bachs Bauernkantate durch La Fura dels Baus. Und es ist spannend zu beobachten, wie sich unter dem Motto „Erinnern schafft Zukunft“ dieser Kunstfest-Ausgabe ernste Event-Schübe aus dokumentarischen, dramatischen und rituellen Segmenten zusammenballen wie diese „Kriegsweihe“.

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