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Opernfestspiele Heidenheim 2023 – Giovanna d’Arco. Foto: Oliver Vogel

Opernfestspiele Heidenheim 2023 – Giovanna d’Arco.

Foto: Oliver Vogel

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Psychotikerin im Verdi-Paradies: „Giovanna d’Arco“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

Vorspann / Teaser

Marcus Bosch, die Capella Aquileia, die drei Hauptsolisten schaffen einen exquisiten Verdi-Klang mit leiser, genauer und deshalb packender Überzeugungskraft. Eine schöne differenzierte musikalische Leistung und dazu eine flache Regie mit allerlei nicht bewältigten Psychiatrie-Klischees. 

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Nach der wenig erfolgreichen Uraufführung seines Dramma lirico 1845 an der Mailänder Scala trennten sich Verdi und das lombardische Luxushaus bis 1869. „Giovanna d’Arco“ mit dem von Temistocle Solera auf das Wesentliche reduzierten Libretto-Digest nach Friedrich Schillers romantischem Tragödienerfolg „Die Jungfrau von Orleans“ kam über 140 Jahre nicht so richtig an. Von einer richtigen Rarität kann man bei dieser Oper derzeit allerdings nicht mehr sprechen. Auf Tonträgern lassen sich Leistungen von Montserrat Caballé, Renata Tebaldi, Anna Netrebko und Jessica Pratt vergleichen. Auch Gabriella Morigi und Iordanka Derilova setzten hohe Maßstäbe als die italianisierte Jeanne d’Arc, welche der Spezialist Julian Budden als Verdis bis 1845 differenzierteste Primadonnen-Partie bezeichnet hatte.

Bei den Opernfestspielen Heidenheim 2023 mit dem recht dehnbaren Motto „HELDINNEN“ sah man das nicht, hörte es aber desto deutlicher. Marcus Bosch entwickelt hier seit mehreren Festival-Jahren einen maßgeblich individuellen Verdi-Sound für das 21. Jahrhundert. Dabei kommt ihm und der brillanten Cappella Aquileia die hell-trockene Akustik des CCH beim Schloss Hellenstein hervorragend entgegen. Lamberto Gardelli betonte vor 50 Jahren den rasanten Drive des frühen Verdi, Lorenzo Viotti vor 25 Jahren dessen belkanteske Elegie. Marcus Bosch kultiviert jetzt, dass der Kriegsmusiken-Verdi in erster Linie ein Mann des Piano und der deutlichen Akzente war, aber keine ihm angedichteten Rhythmuskombo-Ambitionen hatte. Demzufolge dominieren bei Boschs Lesart – fast wie bei Rossini – die Holzbläser. Neben den Stimmen natürlich. Diese kommen mit Boschs kernig verschlankten Sound nicht unbedingt leichter, aber auf alle Fälle fließender und atmender zurecht. Der soeben um „I due Foscari“ erweiterte Heidenheimer CD-Zyklus früher Verdi-Opern könnte, wenn das so weiter geht, ein Meilenstein der Verdi-Interpretation werden. „Giovanna d’Arco“ erklang zudem strichlos, also mit allen Arien-Wiederholungen. Schön.

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Opernfestspiele Heidenheim 2023 – Giovanna d’Arco. Foto: Oliver Vogel

Opernfestspiele Heidenheim 2023 – Giovanna d’Arco. Foto: Oliver Vogel

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Aber die Inszenierung ging arg daneben. Ulrich Proschka agiert so, als gelte Verdi noch immer als Routinier von Zirkus- und Leierkastenmusiken mit Amboss-Märschen. So plump und unüberlegt gerät sein Klinikdrama. Aber es ist viel zu einfach, die Stimmen hörende und in ihrer Aufgabe als Frankreichs Retterin im frühen 15. Jahrhundert zwangsläufig unter Psychostrom stehende Giovanna in die Klapse zu stecken. Statt der Politiker und Kirchenmänner brechen in Ulrich Proschkas Inszenierung Seelenklempner im weißen Kittel über sie den Stab. Was die Zofen in schwarzen Kleidern, weißen Schürzchen und Häubchen dazu sollen, gibt Rätsel auf. Giovanna ist in dem Bühnenelend auch noch rothaarig wie eine Bilderbuch-Hexe im Herbst des Mittelalters. Dann erlebt sie in ihren Visionen die Gräuel der kriegerischen Welt wenn schon nicht als Walpurgisnacht, so wenigstens als Faschingsparty. Dazu wurde der einmal mehr fulminant singende Tschechische Philharmonische Chor Brünn in Glitzermonturen und schwarze Masken gesteckt.(Ausstattung: Lena Scheerer). Wenn’s an die Beziehungen zwischen dem von Giovanna als Super-Hero phantasierten König Carlo und ihren gefährlichen Papa Giacomo geht, herrscht kreative Flaute. Dabei setzt die von Solera und Verdi erfundene Verliebtheit der französischen Nationalheiligen zum Bourbonenkönig schon einiges an melodramatischer Power frei.

… in der Balance zwischen Metall und Samt …

Martin Piskorski (Delil) und Rory Dunne (Talbot) machen festspielwürdigen Stimmen-Staat. Aber die sängerische Hauptlast tragen die Besetzungen der drei Hauptpartien: Luca Grassi ist als Giacomo ein Verdi-Bariton par excellence: Dunkles Timbre, ausgeglichene Linie, genau in der Balance zwischen Metall und Samt. Dank Spiritus rector Marcus Bosch macht der eigentlich weitaus schwerere mexikanische Tenor Héctor Sandoval eine erstaunliche Metamorphose durch, was man im ersten Teil auch minimal hörte. Vom Heldenkaliber tastet Sandoval sich an die hier kultivierten Belcanto-Accessoires aus Verdis Partitur heran. Er klingt weitaus sympathischer und sensibler als Proschka den Charakter anlegt. Erstaunlich auch Sophie Gordeladze in der Titelpartie. Man hört große Koloratur-Fertigkeiten in den wenigen verzierten Momenten. Sie verfügt bereits über den für diese Partie unerlässlichen Kick Richtung italienisches Thriller-Fach à la Lady Macbeth. Hätte Proschka wirklich Mut zu einer Fallstudie mit psychischer Reibungshitze gehabt, wäre Sophie Gordeladze noch aufregender und strahlender geworden. So bleibt es bei einer für das Verdi-Paradies Heidenheim angemessenen Vorstellung, die in konzertanter Form mindestens ebenso fasziniert hätte. Die Phantasien der stationären Patientin Giovanna langweilten, die Stimmen und das Orchester begeisterten, das Publikum jubelte.

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