Es gibt sie, die großen Schlüsselwerke des europäischen Musiktheaters, vor denen viele andere sehr, sehr gute sich dann doch leicht bescheidener ausnehmen, ein klein weniger epochal. Als da so wären: „Orfeo“, „Don Giovanni“, „Tristan“, „Pelleas et Melisande“, „LICHT“. Dazu gehört fraglos auch Alban Bergs „Wozzeck“, am 14. Dezember 1925 an der Berliner Staatsoper uraufgeführt, eine Großtat des damaligen Generalmusikdirektors Erich Kleiber, schier ein letztes Aufbäumen und Aufblühen der liberalen und weltzugewandten Kultur der Weimarer Republik. Als der gleichermaßen gesinnte Kleiber dann das Werk zum 30-jährigen Jubiläum abermals dirigieren sollte, schmiss er die Produktion und sein erneuertes Berliner Amt hin ob der zu erwartenden politischen Einschränkungen und Einmischungen. Auch daher gehört, weit mehr als etwa Grauns „Montezuma“, der „Wozzeck“ wesentlich zur historischen DNA dieses Hauses.
Stephan Rügamer, Friedrich Hamel, Simon Keenlyside, Florian Hoffmann, Bühnenmusiker:innen. Foto: Stephan Rabold
Sensationen aus anderen Zeiten – Die Staatsoper Unter den Linden und Christian Thielemann feiern 100 Jahre „Wozzeck“
Diese reflektieren auch die letzten Regiearbeiten zum Stück an der Staatsoper: Ruth Berghaus 1984, Patrice Chéreau 1994 und Andrea Breth 2011. Aber was für eine Groß- und Wohltat, dass man zum 100-jährigen Schlüsselwerksjubiläum, präludiert durch ein wohltuend detailverliebtes Symposion vom treuen dramaturgischen Haus-Geist Detlef Giese konzipiert, unter den Linden eben diese Inszenierung von Andrea Breth wieder zu sehen bekam ‑ und keine neue. „O Duft aus alter Märchenzeit“, möchte man mit Schönbergs Pierrot beinahe sagen, wären da nicht diese so wenig duftige Beklemmung, diese Größe von Ausdruck und Bühnenwahrheit, die Breth musiktheatralisch ins Werk zu setzen vermochte. Jeder Augenblick ebenso kraftvoll wie singulär konzipiert für den Moment, wenn sich Authentisches ereignet zwischen Körpern und Stimmen, Figuren und Sängern, dem Klang und dem Raum. Heutzutage, da man auf Bühnen so oft üppige Bilderwelten aus analogen, neuronalen, digitalen Datenbanken einfallsreich nachstellt und in solche die Figuren bloß hineinstellt, damit das alles dann etwas zu bedeuten hat, aber längst kein Theater abgibt, da wirkt Breths Kunst wie eine Sensation aus anderen, längst vergangenen Zeiten.
Dafür reicht ihr, die stets genau las und genau spürte, eine einfache Grundidee, ein einziges Set, das seine grauenvolle Wahrheit nicht mit Anleihen auf Bedeutungsschwangeres erschleicht, sondern sich schlicht auf der Bühne als Musiktheater ereignet. Im kongenialen Bühnenbild von Martin Zehetgruber sind ihre geschundenen Figuren allesamt Menschen in Käfighaltung, gepresst in klaustrophobische Kammern, wie sie seit Büchners Zeiten in Irren- und Zuchtanstalten gang und gäbe waren, ohne Ausblick, dafür aber mit Einblick für die Schinder jenseits der Gitter. Und so sehen auch wir, die Zuschauer, im kleinsten Bühnenausschnitt nicht viel mehr als ihre schiere Aussichtslosigkeit, und uns bleibt die Wahl, ob wir es als Mitleidtragende tun, oder als voyeuristische Spießgesellen von Doktor und Hauptmann. Dürfen jene Menschen jedoch mal raus in die Bodenhaltung, dann auf den geschlossenen runden Gefängnisgang zwecks solcher oder solcher, stets aber sinnloser Besorgungen: parieren oder rasieren, zappeln oder zucken, kopulieren oder kotzen. Im Freiland indes, und da nur wird die Bühne weit und leer und sehr finster, ist bloß der Blutsee, in dem Wozzeck ertrinkt.
Das alles ist sparsam gezeichnet und gekonnt ausgeleuchtet (Olaf Freese), fokussiert einzig auf das Ereignis der rein musktheatralischen Handlung. Selten hat man Oper so völlig bar aller Operngesten gesehen. Wenn Personenregie gemeinhin heißt, Figuren halbwegs sinnvoll über die Bühne zu schieben, so übersteigt Breths Kunst solcherlei exponentiell, aber stets sparsam und gekonnt. Es sind immer konsequent aus der Situation ausgearbeitete, ausgehörte Bewegungen und Gesten, Handlung in singulärer Art eben hier und jetzt entstehen lassend. Sie aus dem Zusammenhang reißend aufzählen zu wollen, das Krümmen der Irren, das Häuten der Hasen, Maries trostlos umher robbendes Kind, Wozzecks Körpersprache, oder was alles ein Eimer beinhalten oder bedeuten kann: Das alles würde nichts vom beklemmend bösen Zauber dieses Theaters widergeben können.
Anja Kampe, Solist des Kinderchors der Staatsoper, Simon Keenlyside. Foto: Stephan Rabold
Eines Theaters, dem sich die Ausführenden bei dieser Wiederaufnahme mit aller Begeisterung, musikalischer Kraft und Präzision hinzugeben schienen, vornweg der intensive Simon Keenleyside als Wozzeck und Anja Kampe als Marie, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke und Stephen Milling als Charakterstudien von Doktor und Hauptmann, Andreas Schager als Tambourmajor mit hohem Testosterondruck und, stellvertretend für andere Nebenrollen, der Charaktertenor des Hauses Stephan Rügamer als Narr.
Ihnen allen war der Jubel des Hauses ebenso sicher, wie er zurecht groß war. Eines Hauses, das selbst zu einer bald fünfzehn Jahre alten Inszenierung den üblichen hauptstädtischen Premierenauflauf erlebte, zumal, was nicht die Regel ist, der Chef am Pult stand. Einer großen Inszenierung, deren zeitliche Ferne auf eine andere Art sinnfällig vermittelte, wie der Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und der kulturkundige Norbert Lammert nebeneinander zu sitzen kamen und einander anscheinend wenig zu sagen hatten.
Andreas Schager, Simon Keenlyside, Staatsopernchor. Foto: Stephan Rabold
Apropos Chef, denn abschließend wohltuend war auch, Christian Thielemann en gros außerhalb desjenigen Repertoires zu erleben, dessen Beherrschung er womöglich sich in die Wiege gelegt wähnt. Hochkonzentriert und differenzierend gelang es ihm und „seiner“ warm aufspielenden Staatskapelle, sowohl den expressionistischen Schocks der Breth’schen Klaustrophobien kongenial zu entsprechen, als auch dem dramatischen Fluss dieses komplex gebauten Musikdramas in allem Formenreichtum seinen Lauf zu lassen. Absolute Musik eben. Was will man mehr? …
Wenn aber Wünsche frei wären, dann doch noch der, dass die Staatsoper diese Inszenierung ihres Schlüsselwerks von Andrea Breth noch lange im Repertoire hält, ähnlich wie Erich Kleiber es mit der Uraufführungsversion über sieben Jahre tat, bis er 1932 es nicht mehr konnte. In ihrer nahezu beispiellosen Intensität wäre sie nicht nur ein wirkmächtiges musiktheatralisches Purgativ angesichts der an Opern mittlerweile notorisch gleißenden Schaustellerei und Dekofülle ‑ an der Staatsoper etwa bei „Nabucco“, „Brouček“ oder zuletzt „Les Contes d’Hoffmann“. Auch sollte dieser „Wozzeck“ über die Jahre hinweg, ganz so wie Kleiber es hielt, „Chefsache“ bleiben, damit Thielemanns Berg, über die Perfektion hinaus, dereinst auch die gleiche souveräne Geschmeidigkeit ausstrahlt, wie sie sein Wagner heute schon hat. Ad multos annos!
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