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Aufseherin Lisa (Karina Repova, Mitte) hat Tadeusz (Brett Carter) und Marta (Margarita Vilsone) zusammen ertappt. Foto: © Andreas Etter

Aufseherin Lisa (Karina Repova, Mitte) hat Tadeusz (Brett Carter) und Marta (Margarita Vilsone) zusammen ertappt. Foto: © Andreas Etter

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Vom schwierigen Umgang mit der Erinnerung – Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ am Staatstheater Mainz

Vorspann / Teaser

Geplant war die Mainzer Erstaufführung von Mieczysław Weinbergs eindringlichem Opernwerk über die Erfahrung des Konzentrationslagers Auschwitz schon lange, und zwar als Kooperationsprojekt mit der Oper Graz. Nadja Loschkys Inszenierung der „Passagierin“ kam dort im Herbst 2020 auf die Bühne. Die Mainzer Premiere, dirigiert von GMD Hermann Bäumer, fällt nun in eine Phase gesteigerter gesellschaftlicher Sensibilität angesichts der beunruhigenden Wiederkehr völkischen Gedankenguts.

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Seit ihrer postumen szenischen Premiere bei den Bregenzer Festspielen 2010 etabliert sich Weinbergs Oper zunehmend auf den deutschsprachigen Bühnen und wird zum Bestandteil deutscher (und potenziell auch europäischer) Erinnerungskultur. Nach wiederholter Begegnung mit dem Werk erkenne ich drei besondere Qualitäten des von Alexander Medwedjew nach der literarischen Vorlage von Zofia Posmysz zusammengestellten Szenarios. Eine davon ist, dass es die Täter- und die Opferperspektive zusammenbringt. Lisa Franz, als junge Frau einst Aufseherin im KZ Auschwitz, ist mit ihrem Ehemann Walter, einem westdeutschen Diplomaten, auf der Dampfer-Überfahrt zu dessen neuem Dienstort in Brasilien, als sie in einer Mitpassagierin Marta, eines ihrer einstigen Opfer, zu erkennen glaubt. Die Identität der rätselhaften Passagierin wird nicht wirklich klar; doch die Indizien häufen sich, dass es tatsächlich sich um die junge, als Angehörige des polnischen Widerstandes inhaftierte Marta (in Mainz: Margarita Vilsone) handelte. Lisa erlebt mehrere beklemmende Flashbacks, nach denen sie ihrem Ehemann die ganze Wahrheit gesteht. Schuldgefühle und schlechtes Gewissen lassen sich nicht mehr verdrängen, werden aber überlagert vom Versuch der Schuldabwehr. Marta müsse ihr fürs Überleben dankbar sein, erwartet Lisa, ohne das Asymmetrische der Situation im KZ zu realisieren.

Eindrucksvoll blenden Medwejew und Weinberg über in die Perspektive der Opfer. „Hast du auch alles gesagt?“ fragt Walter (Florian Stern) Lisa (Karina Repova), und statt ihr antwortet der Männerchor: „Nein. Du hast nicht alles gesagt! Jetzt mögen andere sprechen.“ Die Bühne zeigt nun Brutalität und Zynismus der Wachmannschaften, sie zeichnet aber vor allem die Individualität der weiblichen Gefangenen im Frauenlager, die aus unterschiedlichen Ländern kommen und jede ihr eigenes Schicksal mitbringen: Die Russin Katja, die Polinnen Krzystina und Bronka, die Tschechin Vlasta, die Jüdin Hannah, die Französin Yvette, dazu eine verwirrte Alte, die vom nahen Tod kündet, während die Häftlinge sich gegenseitig zu stärken und zu trösten suchen, erinnern und hoffen. Der Vielfalt der Herkunft und der Schicksale entspricht als zweite herausragende Eigenschaft die Vielsprachigkeit eines wahrhaft nationenübergreifenden Werkes. Im Programmheft lesen wir entsprechend in „deutscher, polnischer, französischer, tschechischer, jiddischer, russischer und englisches Sprache mit deutschen Übertiteln.“ Es habe in den Proben immer wieder herausfordernde Momente gegeben, gab GMD Bäumer in einem Vorab-Gespräch zu Protokoll: „Wir haben beispielsweise Letten, Litauer und Polen in der Produktion dabei.“ Und es wirkt wie ein Nachhall der Aufführung, wenn Tage später Staatstheater-Intendant Markus Müller als Redner bei der großen DGB-Kundgebung auf dem Ernst-Ludwig-Platz an die 34 vertretenen Nationen im Personal seines Hauses erinnert und den Perspektivwechsel und den Willen zur Empathie als Grundprinzipien von Theater beschwört.

Eine dritte besondere Qualität der Oper liegt darin, dass Musik eine thematisch zentrale Rolle spielt. Auf dem Ozeandampfer ist es ein bestimmtes Musikstück, das die ehemalige Aufseherin Lisa in die Verzweiflung treibt. Die Bordkapelle stimmt einen ziemlich banalen Walzer an, aber es ist genau der Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten. Letzterer galt als „Musikkenner“. Der junge Geiger Tadeusz, Martas Verlobter, akzentuiert diesen deutschen Begriff in einem ansonsten polnisch gesprochenen Satz. Als Tadeusz (Brett Carter) mit einer kostbaren Geige zum Kommandanten zitiert wird, um dessen Lieblingswalzer vorzutragen, hat er die Kühnheit, stattdessen die berühmte Chaconne aus Johann Sebastian Bachs Solopartita in d-moll zu spielen. Damit hält er den zu Massenmördern verkommenen deutschen Besatzern ihre eigene Hochkultur entgegen. Den Kommandanten scheint die unverhoffte Begegnung mit der Idee des Schönen, Wahren und Guten zumindest zu verblüffen, denn er unterbricht Tadeusz nicht. Es sind seine Untergebenen, die den Geiger zusammenschlagen und in den Tod schicken. Der Komponist hat die Chaconne dem Streichorchester übertragen, das klangvoll als Ensemble aufblüht, dann allmählich von Störgeräuschen überlagert wird, bis dann plötzlich der Tumult ausbricht. Dass Tadeusz auf der Mainzer Bühne schon attackiert wird, während die Musik noch spielt, ist eine markante Schwäche der Regie oder zumindest der Mainzer Einstudierung von Nick Westbrock.

Überhaupt erscheint mir die Inszenierung problematisch – trotz bester Absicht, die sich im Programmheft, in vorbereitenden Gesprächen und in zahlreichen Begleitveranstaltungen niederschlägt. Das gesamte von Etiennne Pluss gestaltete Bühnenmobiliar ist, wenn man das so formulieren kann, blassgrünlich vergilbt – als handele es sich um Fotos aus grauer Vorzeit und als bräuchte es erst das Theater, um die Erinnerung lebendig werden zu lassen. Auch verschiedene Hörstationen im Großen Haus, an denen man Videointerviews mit der hochbetagten, aber hellwachen Zofia Posmysz verfolgen kann, sind in diesen gespensterhaften Ton getunkt. Auf der Bühne kommt erst durch die Kleidung der Reisenden an Bord des Dampfers, vor allem aber durch die schwarz-weiß-roten Uniformen der Wachen Farbe ins Bild. Dagegen tragen die weiblichen Gefangenen standardisierte und anonymisierende Häftlingsuniformen. Noch problematischer wirkt der Einheitsbühnenraum, der Ozeandampfer und KZ nahtlos ineinander übergehen lässt. Das Schockhafte der Flashbacks wird dadurch deutlich abgedämpft, der Sog der Handlung lässt entschieden nach. Auf der Bühne machen sich die (eigentlich unbeteiligten) Gäste an Cocktailtischen breit, während sich die Gefangen parallel an den Rand drücken, so dass man – zumindest vom Rang aus – kaum ausmachen kann, wer gerade singt. Räume der Intimität, die eben so selten wie wichtig waren für das Überleben, lässt diese breite Bühne kaum zu. Und in diese beklemmende Szenerie hinein platzen dann plötzlich die Jazzeinlagen, die bei Weinberg für die Unbeschwertheit der Nachkriegszeit stehen. Geradezu zynisch wirkt es, wenn die Schiffsstewards den Gefangenen die Häftlingsnummern auf dem Tablett servieren.

Die szenische Doppelung der Lisa-Figur kommt nicht unerwartet. Karina Repova auf dem Schiff sieht sich aber nicht nur ihrem jüngeren Doppelgängerin gegenüber, sondern wird sogar verdreifacht. Als gealterte Lisa bewegt sich fast den ganzen Abend die erfahrene Tänzerin Heide-Marie Böhm-Schmitz auf der Bühne. Dies ist tatsächlich ein spannender Aspekt der Inszenierung. Zofia Posmysz, die Autorin der literarischen Vorlage, hat ihr Schicksal als Auschwitz-Überlebende in beeindruckender Weise verarbeitet. (Davon legt in Mainz auch ein Abend mit Lesungen aus den Romanen „Die Passagieren“ und „Ein Urlaub an der Adria“ Zeugnis ab.) Wie aber erinnert sich eine Täterin in hohem Alter? Hier wirkt sie leicht verwirrt und zudem geschlagen mit einem Ordnungs- und Reinigungszwang. Stark ist die Geste, in der sie die auf einem Haufen zusammengeworfenen Kleider und Schuhe der zur Vernichtung bestimmten Frauen fein säuberlich zurücksortiert und zusammenlegt, als könne sie das Grauen rückgängig machen und die Kleider zurückgeben. Dass die alte am Ende die Uniform der jungen Lisa anzieht, kann man als wortloses Eingeständnis von Schuld deuten.

Musikalisch ist die Aufführung eindrucksvoll. Wie stets begegnet Hermann Bäumer am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz einer bislang nicht gespieltem Partitur mit analytischem Scharfblick und interpretatorischer Hingabe, die sich beide im Spiel des Orchesters niederschlagen. Die Musik sei „irgendwie zurückgenommen“ und habe „keinen richtigen Fluss“, stellte der GMD fest; gleiches lässt sich zum Teil auch bei den Auszügen aus den Kinderliedern op. 13 in jiddischer Sprache feststellen, die Karina Repova im Begleitprogramm vortrug. Weinberg reduziert seine musikalische Sprache oft aufs Wesentliche, Skizzenartige, Signalhafte; er tastet sich an Text und Handlung voran und knüpft dabei eher untergründige Verbindungslinien. Wir hören düstere Einwürfe des Männerchors, Fetzen von Tanzmusik, verwirrtes Klappern von Stabspielen, Schlagzeugkaskaden, zaghafte Streicherkantilenen und brutale Bläserfanfaren, die boshaft Beethovens Schicksalsmotiv zitieren. Mit dem Lied „O du lieber Augustin“ scheinen die SS-Wachen ihr eigenes Ende vorwegzunehmen (vielleicht spielt Weinberg auch auf Schönbergs Streichquartett op. 10 an?). Oft folgen die Singstimmen dem Sprechtonfall; „Opernhaftes“ gibt es nicht wirklich. Bewegend ist, wie Julietta Aleksanyan als Katja ein mehrstrophiges russisches Volkslied aus ihrer Heimat singt – und dann in beklemmendem Realismus abbrechen muss, weil sie die Fortsetzung vergessen hat. Insgesamt erleben wir beeindruckende sängerische Leistungen, und die Musik trägt den Abend auch über die Schwächen der Inszenierung hinweg.

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