Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin beschäftigte sich wie im vergangenen Herbst die Opernhäuser in Karlsruhe und Meiningen mit einer vergessenen Oper, die nach fast 120 Jahren plötzlich wieder hoch im Interesse steht. Es ist „Strandrecht“ (englischer Titel „The Wreckers“), das dritte und bedeutendste von Ethel Smyths (1858-1944) sechs Bühnenwerken. Es wurde 1906 nicht in ihrer Heimat England uraufgeführt, sondern in Leipzig, in Deutschland also wie ihre beiden ersten Werke in Weimar und Berlin. Das plötzliche Interesse an ihrer Schöpfung hat mehrere Gründe, nicht zuletzt den, dass es nun einmal das Werk einer Komponistin ist. Sie musste sich wie andere Geschlechtsgenossinnen gegen Voreingenommenheit im familiären wie im weiten Umfeld durchsetzen – und tat es als englische Suffragette gründlich und mit Erfolg.

Ensemble Schwerin, Opernchor. Foto: © Silke Winkler
Wenn Piraterie und Mord zum Gottesdienst werden – Ethel Smyths „Strandrecht“ in Schwerin
Eine verquere Gesinnungsethik
Auch wenn das Thema Emanzipation in dieser Oper marginal bleibt, wird anderes zentral. Es ist die bigotte Lebensführung, die gerade in unserer Zeit brennende Aktualität bekommen hat. Im „Strandrecht“ verkörpert die verquere Gesinnung Pasko, Oberhirte und zugleich weltlicher Dorfvorsteher. Grandios ist die Predigtszene, in der er die Zehn Gebote umdeutet, wodurch Morden und Plündern, gottgefällig erscheint: „Dem Schöpfer fließt Blut zu Ehren“. Man darf dabei getrost an den amerikanischen Präzedenzfall denken, an das Geschehen im Weißen Haus.
Das Libretto von „Strandrecht“ hat dagegen ein unglaubliches Geschehen in einem kleinen Fischerort an Cornwalls wilder Felsenküste als Vorlage. Die Bewohner dort litten wegen überfischter Gründe und einer sehr kargen Bodenstruktur auf dem Land unter Hunger und Armut. Ihr Leben zu fristen, war ein Zuverdienst nötig, der sich aus Piraterie ergab, dem Ausbeuten havarierter Schiffe. Da „Gott“ nicht genug von ihnen in stürmischer See stranden ließ, mussten sie selbst nachhelfen. In dunklen oder stürmischen Nächten löschten sie die wegweisenden Leuchtfeuer und töteten die, die überlebten. Denn nur ohne Zeugen ermächtigte das „Strandrecht“ sie, sich am Strandgut zu bereichern. Die Gewissensnot der Fischer zu mildern, half eben jener Pasko, dessen Name auf eine slawische Herkunft hinweist, was nicht als Anspielung auf ein Migrationsproblem gedeutet sei.
Die Bühne hat Hannah König in zwei karge, hintereinander liegende Räume geteilt. Sie werden Versammlungs- oder Kirchenraum, auch Vorplatz zu einer Höhle, die das Meer im Tidenrhythmus flutet – ein „geeigneter“ Ort, Unliebsame verschwinden zu lassen. Es ist der lokal angepasste Weg, den Verdi in „Aida“ wählte. Wer dagegen Cornwall kennt, kann nicht umhin, an die Schroffheit der kahlen Küste zu denken, an schäumende Brecher und ein tosendes Meer. Sie führten in Astrid Steiners gleichsam ständig aufspritzenden Videos ein drastisches Eigenleben. Das war schon in einer anderen Inszenierung im Norden Metapher für ungezügelte Moral. Das Theater Lübeck hatte sie im Januar in „Tristan und Isolde“, auch in Cornwall angesiedelt, für fast das Gleiche genutzt.
Realer Hintergrund
Ethel Smyth hatte umfangreiche Studien getrieben, um den Stoff mit ihrem Librettisten Henry Bennet Brewster, zeitweilig ihr Lebensgefährte, detailreich einzurichten. Der Text war aus äußeren Gründen zunächst Französisch verfasst, wurde Deutsch uraufgeführt und erst später ins Englische Übertragen. Obwohl er als „Lyrisches Drama in drei Akten“ umschrieben wurde, verhält sich die Handlung eher dramatisch. Viele Handlungsstränge mit eigenwilligen Charakteren gibt es. Liebe und Eifersucht sowie Ehebruch, Betrug und Verrat, dazu Gewissensnot oder -losigkeit ist in sie hineingearbeitet. Das bedingt eine Reihe von größeren Rollen. An erster Stelle steht dabei eine Gruppe, die Gemeinde, dargestellt durch den Opernchor. Aki Schmitt hat ihn einstudiert und Daniela Kerck in ihrer Regie mit vielen passenden Aufgaben betraut. Würdige Kirchengesänge oder die bei einer Prozession hat er zu singen, oder er hat erregt Stellung zu nehmen oder dramatisch Anteil.
Der reale Hintergrund der Geschichte war mythisch zu verklären, was Ethel Smyth in ihrer vielseitigen und farbig instrumentierten Partitur spannend, nacherzählend oder ausdeutend gelang. Gleich das erste Vorspiel ist solch ein grandioses Klanggemälde, ein zunächst tosendes Seestück, das nach einer geheimnisvoll ruhigen Passage in ein weit angelegtes Chorstück mit sakralen Anklängen mündet. Szenen folgen, in denen sich die Vielzahl der Mitwirkenden vorstellen. Zu ihnen gehört vor allem das Liebespaar, das sich allein gegen den bösen Zwang der Masse stellt und heimlich Feuer entzündet, die Seeleute zu warnen. Ihren „Verrat“ wird in einem Femegericht mit dem Tode bestraft. Den weiblichen Part der Thurza sang wie schon in Meiningen Karis Tucker. Ihr junger, in der Tiefe bewundernswert farbiger Mezzo passte erfreulich gut zu ihrer Rolle. Ihren Geliebten, den jungen Fischer Mark, verkörperte Marius Pallesen mit einem Tenor von gleichermaßen großem Ausdruck wie schönem Timbre. In der Oper ist er mit seiner Zuneigung zu Thurza der größte Rivale des bereits ältlichen Pasko, mit dem sie verheiratet ist. Diese Gegenrolle hatte man mit Brian Davis erstrangig besetzt. Groß von Statur und mit markantem Bariton, zudem mit gestalterischer Eindringlichkeit gab er dieser zwielichtigen Figur Gewicht, besonders in der Szene, in der gerade er sich gegen den Verratsvorwurf wenden muss.
Wie es in solchen engen „Gemeinden“ ist, sind alle miteinander verwandt, zumindest bekannt. Zunächst ist Avis (Karen Leiber mit einem klaren, schön geführten Sopran und sehr agilem Spiel) noch Freundin Thurzas, später wird sie zur heftigen Rivalin um Marks Gunst. Ethel Smyth widmet dieser Rivalität eine Reihe von beeindruckenden, auch heftigen Szenen, in denen noch andere Figuren Gewicht bekommen. Avis Vater gehört dazu, der als Leuchtturmwärter das negative Tun zu arrangieren hat (von Martin Gerke mit seinem klangvollen Bariton lebhaft interpretiert). Oder der junge, zweifelnde Jack, eine Hosenrolle, die Martha-Luise Urbanek subtil gestaltet. Feinsinnig gelingt es so dem Libretto das Spiel und die Intrigen immer zweidimensional zu führen, im Privaten wie im Dörflichen. Höhepunkt ist dabei, dass sogar Pasko in lebensbedrohlichen Verdacht gerät, der heimliche „Verräter“ zu sein.
Fazit
Diese Oper ist in Handlung und Musik vielseitig, lebhaft und klangschön von Mark Rode und der Mecklenburgische Staatskapelle interpretiert. Merkwürdig ist nur der Schweriner Schluss, bei dem Jack wie ein Deus ex machina Thurza und Mark von ihren Fesseln befreit, vor dem Ertrinken rettet und so ein Happy End bereitet.
- Anmerkung: Der Text beruht auf dem Eindruck bei der zweiten Aufführung am 14. Februar 2025.
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