Vor über zwanzig Jahren verlegte Regisseur Dietrich W. Hilsdorf am Essener Aalto-Theater Georges Bizets „Carmen“ von Spanien in die direkte Nachbarschaft: nach Gelsenkirchen! Das Stück spielte dort in irgend einer schäbigen Eckkneipe. Jetzt inszeniert Rahel Thiel die „Carmen“ im Gelsenkirchener Musiktheater – und die Handlung kehrt zurück an ihren ursprünglichen Ort: nach Spanien! Aber ohne große Folklore und mediterranen Budenzauber.
„L’amour est un oiseau rebelle, que nul ne peut apprivoiser“ – singt Carmen gleich anfangs in ihrer Habanera. Und damit stellt sie unmissverständlich klar, sich in Liebesangelegenheiten nicht auf Kompromisse einlassen zu wollen. Eine Radikalität, die bei manchen ZeitgenossInnen von heute durchaus noch (oder wieder) Stein des Anstoßes sein könnte.
Rahel Thiel, die bereits mehrfach in Gelsenkirchen Regie führte, lässt in ihrer aktuellen Inszenierung den Konflikt zwischen Carmen und Don Josés bürgerlichen Beziehungsträumen langsam hochkochen. Alles beginnt ganz harmlos. Und doch ist in Josés fast kindlichem Schwärmen schon der unüberbrückbare Antagonismus zu Carmens antibürgerlichen Vorstellungen angelegt – sowohl in Bizets Musik als auch in Thiels Regiekonzept. Schnell wird klar, dass der Wechsel vom bürgerlichen ins kleinkriminelle Milieu José eigentlich zutiefst widerstrebt. Lustlos, ja gelangweilt und irgendwie auch verloren bewegt er sich unter Carmens zwielichtigen Freunden, die voller Energie ihren nächsten Raubzug vorbereiten. Was ihn dort hält, ist eigentlich nur Carmen. Eine Rückkehr in sein altes Leben? Kaum möglich – was ihm schmerzlich bewusst wird, als Micaëla ihn zur Umkehr zu bewegen versucht. Er ist an Carmen gekettet.
Dann tritt Don Escamillo auf, der smarte Torero, den Carmen sich flugs als neuen Liebhaber hält. Rahel Thiel zeichnet ihn als Figur eher blass und dient ihr allenfalls als Brandbeschleuniger für den Showdown – der ultimativen Konfrontation zwischen Don José und Carmen. Für die stellt Dieter Richter eine veritable Stierkampfarena auf die Bühne. In den Logen tummelt sich bürgerliches Publikum. Die Damen werden von Renée Listerdal mit der Mantilla, der züchtigen Kopfbedeckung, ausgestattet. Aber wenn‘s um das finale Spektakel geht, sind sie genauso voyeuristisch wie ihre männlichen Begleiter. Alle zusammen heizen die Kombattanten in der Arena an. Carmen tritt als heißblütiger, unberechenbarer Stier mit kleinen Hörnern auf ihrem Haupt Don José gegenüber, wissend, dass sie dem Tode geweiht ist. Um so mehr reizt sie ihn, stachelt ihn an, sein Werk zu vollenden. Er zückt sein Messer, sie drückt sich hinein – und bleibt so ihren Prinzipen treu. Ein starkes Finale, das ein paar Albernheiten und die nicht immer ganz stringente szenische Arbeit mit dem Chor vergessen lässt.
Wie immer kann der Chor des Musiktheaters im Revier glänzen, ebenso wie die Kinderstatisterie. Und auch die kleineren Solo-Partien sind überzeugend besetzt. Piotr Procheras Escamillo lässt etwas an Virilität vermissen und strotzt nicht, wie sonst üblich, vor Testosteron. Dagegen offenbart Khanyiso Gwenxane als Don José ein Höchstmaß an Besessenheit und Verlorensein.
Lina Hoffmann zeigt in der Titelpartie große darstellerische Fähigkeiten und gutes vokales Material. Den letzten Rest an stimmlicher Glut, der ihr noch fehlt, wird sie sicherlich zu mobilisieren wissen. Eine Entdeckung aber ist Heejin Kim als Micaëla. Die junge südkoreanische Sopranistin bereitet sich derzeit auf ihr Konzertexamen vor und ist Mitglied des Opernstudios NRW. Ihre Stimme leuchtet aus dem unscheinbaren Reisekostüm der Micaëla förmlich hervor, strahlt Glaube, Liebe, Nachsicht und Festigkeit aus – eine ganz hervorragende Leistung.
Und auch die Neue Philharmonie Westfalen entwickelt im Orchestergraben hitzige Gefühlsraserei und wildes Kampfgetön. Rasmus Baumann rundet so einen in sich absolut stimmigen Carmen-Kosmos, den das Publikum mit ganz viel Applaus goutiert.
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- Weitere Aufführungen: 20. und 27. 3.; 3., 10., 18. und 24 4. 2022