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Einsichten in die Arbeit einer Musikpsychologin

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Ist die Fähigkeit, vom Blatt spielen zu können, erlernbar?
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Ji In Lee: Component Skills Involved in Sight Reading Music. (Schriften zur Musikpsychologie und Musikästhetik, Band 15), Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 176 S., € 39,00, ISBN 3-631-52682-2

Die erste Begegnung mit unbekannten Noten: Viele Musikerinnen und Musiker blättern mit großer Neugier durch eine Partitur und packen Sekunden später guter Dinge zu. Andere wiederum schnüffeln den Duft von potentiellem Misserfolg und scheuen zurück. Wenn man dann im Stil der gut meinenden Klavierpädagogen zum Ausprobieren ermuntert, geht die Prophezeiung der Zögerlichen in Erfüllung. Es führt zu einer Ansammlung von Tönen, die nicht die Gestalt einer Komposition annehmen wollen. Quittiert wird das Missgeschick mit Stöhnen. Mit solcher Erfahrung drängt sich die Frage auf, ob die Fähigkeit, vom Blatt spielen zu können – die für den Erfolg in vielen Musikerberufen unerlässlich ist –, angeboren oder erlernbar ist.
Das Blatt- oder „Prima-vista-Spiel“ wird auf Englisch „sight reading“ genannt. Dennoch ist es bisher nicht erwiesen, dass das Sehen („sight“) ausschlaggebend für diese Fähigkeit ist. Lehrwerke zu diesem Thema divergieren stark. Einige wollen dem Spieler rhythmische und motivische Muster einprägen, andere zielen darauf ab, Augen, Ohren und Finger mit progressivem Schwierigkeitsgrad in Bausteinen zu trainieren. Ji In Lee sagt, dass es bisher überhaupt keine erfolgreiche Lehrmethode des Blattspielens geben konnte, da eine plausible Erklärungstheorie für diese Fähigkeit fehlte. Mit ihrer Arbeit ermöglicht sie eine wissenschaftliche Betrachtung der kognitiven, physiologischen, spieltechnischen und musikalischen Voraussetzungen für das kompetente Blattspiel. Ziel ihrer Studie ist, festzustellen, ob die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Musikers beim Vomblattspielen auf Grund von quantifizierbaren Fähigkeiten und Prädispositionen vorausberechnet werden kann. Mit großer Sorgfalt hat sie ihr Experiment vorbereitet und eine Untersuchung mit 52 Studenten durchgeführt. Dadurch konnte sie am Ende statistisch relevante und wissenschaftlich verwertbare Erkenntnisse gewinnen.

Wer aus der Unterrichtspraxis kommt, erhält durch dieses Buch Einsicht in die Arbeitsmethoden einer Musikpsychologin. Nicht der subjektive Eindruck einer Lehrkraft, sondern Computer-Software wertete das Vorspielen der Probanden aus. Mittels Kopfhörer vernahmen diese eine Melodie, die sie begleiteten. Alle Spieler mussten zwei „Aufwärmstücke“ und dann fünf weitere Stücke unterschiedlichen Niveaus probieren. Ihre Trefferquote wurde ermittelt. Getestet wurden auch visuelle und auditive Reaktionszeit, Fingerfertigkeit (bei Trillern und „Speed Tapping“) und Speicherkapazität des Kurzzeit- und des Arbeitsgedächtnisses. (Ein kurzes Video auf der Webseite http://musicweb. hmt-hannover.de/sightreading illustriert die angewandte Methode.) Allgemeine, nicht musikspezifische Intelligenz wurde bestimmt, und – äußerst spannend – die Fähigkeit der „Audiation“ nach Gordon („Inner Hearing“) überprüft. Frau Lee hat sowohl die musikalische Expertise der Versuchsperson dokumentiert – Anzahl der Stunden als Solist, Begleiter und Kammermusikpartner – als auch die wöchentliche Übungszeit, die für das Vomblattspiel aufgewendet wurde, sowie Alter, Geschlecht, absolutes Gehör und Links- oder Rechtshändigkeit.

Was Pädagogen in der Praxis erleben und daher als Ergebnis auch vermuten, bewahrheitet sich. Frau Lees Untersuchung zeigt: Wer bis zum 15ten Lebensjahr das Vomblattspiel erlernt und dezidiert geübt hat, schnitt bei der Performanzaufgabe bestens ab. Unter den insgesamt 25 Variablen gibt es zwei aus dem Bereich der Motorik, die sich als besonders aufschlussreich erweisen. Wer mit den Fingern 3-4-2 oder 3-4-1 schnell trillern kann, scheint ebenfalls über beste Voraussetzungen für eine gute Spielleistung zu verfügen. Soviel sei hier schon einmal vorweggenommen.

Auf Sie wartet also eine grundlegende Darstellung des experimentellen Paradigmas, samt Information zum Ablauf, zur Datensammlung und deren Auswertung, sprich, viel Statistik. Trotzdem können Sie daraus eine aufregende Lektüre machen, indem Sie sich auf die Suche nach „verdächtigen“ Komponenten begeben, die Ihnen helfen können, das Geheimnis des Vomblattspiels zu entschlüsseln. Das heißt, wer vor hat, sich mit diesem Buch auseinander zu setzen, muss eine aktive, mitdenkende Rolle einnehmen. Die Herausforderung, Detektivarbeit zu leisten, hat mir gut gefallen. Die Autorin verheimlicht nicht, dass ihre Studie nur der Information und Spurensicherung dienen kann. Eine vollkommene Aufhellung des Phänomens ist – wenn überhaupt – erst nach vielen weiteren Untersuchungen zu erhoffen.

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