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Schalten Sie ab! Neue Musik im Radio, hrsg. von Harry Vogt/Martina Seeber, Wolke Verlag, Berlin 2025

Schalten Sie ab! Neue Musik im Radio, hrsg. von Harry Vogt/Martina Seeber, Wolke Verlag, Berlin 2025

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„Schalten Sie ab!“

Untertitel
Ein Buch voller Erinnerungen an die Glanzzeiten der neuen Musik im Radio
Vorspann / Teaser

Schalten Sie ab! Neue Musik im Radio, hrsg. von Harry Vogt/Martina Seeber, Wolke Verlag, Berlin 2025, 232 S., Abb., € 29,00, ISBN 978-3-95593-166-7

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Der Buchtitel suggeriert eine globale Perspektive auf den allgemein gehaltenen Themenkomplex „Neue Musik und Radio“. Behandelt wird jedoch nur die Neue Musik im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) der BRD und ein bisschen auch im Rundfunk der DDR. Gleichwohl ist damit ein Bereich umrissen, der viele Entwicklungen der Neuen Musik seit 1923 in nationalem und nach 1945 in internationalem Maßstab initiiert, ermöglicht, gefördert, kommentiert und bekannt gemacht hat. Die Bedeutung des Radios in Deutschland für Jazz, Alte und Neue Musik ist unstrittig und wird in dieser neuen Publikation einmal mehr betont.

Die von Harry Vogt und Martina Seeber im Vorwort formulierte Hommage an das Radio feiert das Medium, als habe es heute noch dieselbe Ausstrahlungskraft wie einst, als György Ligeti in Budapest inmitten der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 eine Sendung neuer Musik des WDR Köln zu hören versuchte. Trotzig beharren die Herausgeber auf der Unverzichtbarkeit des ÖRR in Gegenwart und Zukunft. Zugleich benennt man die durch Privatsender, Streamingportale, Soziale Medien, verändertes Informations- und Medienverhalten sowie durch Politik und Sparauflagen ausgelöste Krise des ÖRR, der seit den 1990er Jahren mit dutzenden Wellenreformen bis hin zur aktuellen ARD-Reform reagiert. Doch statt mit Kunst und Kultur das eigene Profil und gebührenfinanzierte Existenzrecht zu untermauern, werden Redaktionen, Planstellen, Etats, Konzertreihen, Festivals reduziert oder ganz gestrichen. Im Gegensatz zum grinsenden Mauricio Kagel auf dem Titelfoto haben Musikschaffende, Freunde und Mitarbeitende des ÖRR heute nichts zu lachen.

Die Autorinnen und Autoren der zwölf Essays plus Vor- und Nachwort sind oder waren allesamt langjährige feste oder freie Radiomitarbeiter. Herausgeber Harry Vogt war von 1985 bis 2022 fast vierzig Jahre lang WDR-Redakteur für Neue Musik. Herausgeberin Martina Seeber arbeitete seit dem Studium als freie Autorin und Moderatorin für diese Redaktion, bevor sie selbst Redakteurin am SWR wurde. Auch sechs weitere Beitragende arbeiten regelmäßig für den WDR, so dass diese größte europäische Rundfunkanstalt nach der BBC entsprechend überrepräsentiert ist. Gleich mehrmals erwähnt werden einschlägige Akteure und Großtaten der Heroengeschichte dieses Senders. Weitere Redundanzen gibt es zu den von Vogt bisher im Wolke Verlag herausgegebenen Bänden über die Wittener Tage für neue Kammermusik, die Konzertreihe Musik der Zeit und das Studio für Elektronische Musik des WDR. Nichts Neues bringen auch die über den Band verteilten zwanzig „Produktionen im Porträt“, bei denen auf je zwei Seiten ausgewählte Werke mit Kurzkommentaren, Fotos und Angaben zur Uraufführung vorgestellt werden, darunter Cages „Concerto for Piano and Orchestra“, Ligetis „Atmosphères“, Stockhausens „Momente“, Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“.

Eine gewisse Systematik verfolgen thematisch fokussierte Beiträge. Dorothea Enderle macht plausibel, wie der zuvor als Selbstverpflichtung verstandene „Kulturauftrag“ mit Einführung des privaten Rundfunks 1984 zu einem vielfach eingeklagten, wenngleich nirgends in Art und Umfang definierten Anspruch des ÖRR wurde. Thorsten Möller beleuchtet die „Ökonomie“ des Rundfunks als Arbeitgeber und wichtige Einnahmequelle für Komponisten, Autorinnen und Verlage. Hans-Peter Jahn skizziert eine Geschichte der „Rundfunk-Orchester“, von denen es heute noch zehn gibt, die aber nicht mehr an Musikredaktionen gebunden sind, sondern über eigenes Management und eigene Programmvorstellungen verfügen. Während die Orchester von SWR, WDR und BR zusammen 1388 Novitäten zur Uraufführung brachten, haben dagegen die WDR-Chefdirigenten Hans Vonk, Semjon Bytschkow und Jukka-Pekka Saraste alle drei nacheinander jeweils sämtliche Brahms-Symphonien aufgeführt, eingespielt und auf CD herausgebracht. Dorothea Bossert liefert Daten zu Anzahl, Mitgliederstärke, Repertoire und Uraufführungen der „Rundfunk-Chöre“, von denen es einst dutzende gab und heute noch sieben bestehen. Sylvia Systermans schildert die Geschichte, Architektur und Ausstattung der seit den 1930er Jahren errichteten „Rundfunksäle“. Friedemann Dupelius geht dem Aufbau von „Schallarchiven“ nach und Susanne Ockelmann der Vergabe von „Kompositionsaufträgen“.

Drei Beiträge widmen sich der Beziehung von neuer Musik und Rundfunk im Allgemeinen sowie im Besonderen in der 1924 gegründeten WERAG und dem seit 1945 bestehenden (N)WDR. Michael Struck-Schloen beschreibt speziell für das Radio komponierte Musik. Rainer Peters schildert den Wandel der Intendanzen, die zunächst mit Schriftstellern und Theatermännern besetzt wurden, bevor nach dem Prinzip „Hierarchie versus Kompetenz“ kulturferne Journalisten oder Juristen das Ruder ergriffen. Wie Peters skizziert auch Martina Seeber wichtige Produktionen, Konzert- und Sendeformate neuer Musik unter den WDR-Redakteuren Herbert Eimert, Otto Tomek, Wilfried Brennecke, Wolfgang Becker-Carsten, Harry Vogt und Frank Hilberg. Vogt selbst äußert sich gleich zweimal als Rundfunkredakteur mit Verantwortung für Programm, Planung, Produktion, Sendung, Termine, Budget, Honorare, Räume, Personal, ständig im Austausch mit Klangkörpern, Komponierenden, Verlagen, allseits unterwegs, umsichtig, dialogbereit, immer neugierig, offen, kreativ, selbständig, qualitätsbewusst, mutig, teamfähig…

Manches ist eitel und beschönigend. Der im Vorwort betonten Freiheit, dass bei Kompositionsaufträgen „fast nie nach Funktauglichkeit oder Sendbarkeit gefragt“ würde, begegnen indes hartnäckige Vorbehalte gegen sehr leise und fast stille Musik sowie gegen szenische und visuelle Anteile, die sich radiophon nicht abbilden lassen. Bis in die 2000er Jahre pflegte man im Rundfunk auch Vorurteile gegen die ungeliebte elektronische Musik, die sich bei Konzerten angeblich nicht mit der Aufnahmeelektronik vertrage. Neben der aufschlussreichen, zuweilen aber befangenen Binnensicht der Radiomachenden wären auch kritisch einordnende Außenperspektiven von Seiten der Musik- und Medienwissenschaft erhellend gewesen.

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Schalten Sie ab! Neue Musik im Radio, hrsg. von Harry Vogt/Martina Seeber, Wolke Verlag, Berlin 2025

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Immerhin umreißen die Beiträge von Enderle, Jahn, Peters und – mit Zweckoptimismus gepaart – der Epilog „Verzagen oder Widerstehen?“ die aktuellen Probleme des ÖRR. Schon im Zuge des 2009 für die Sommermonate von Mitte Juli bis Mitte September eingeführten ARD-Radiofestivals fielen zwanzig Prozent der jährlichen Sendungen neuer Musik weg; seit 2024 sind die ARD-Kulturradios zudem ganzjährig an drei Abenden zusammengeschlossen und senden darüber hinaus hr2, SR Kultur und SWR Kultur an zwei weiteren Abenden dasselbe Programm; seit 2014 wurden allein im WDR fünfhundert Planstellen gestrichen; der WDR-Intendant und ARD-Vorsitzende Tom Buhrow skizzierte bereits 2022 in seiner berüchtigten Hamburger Rede die Fusionierung von Sendern zu Kompetenzzentren und der 18 rundfunkeigenen Klangkörper zu einem Orchester, Chor und einer Bigband; und der im Oktober 2024 beschlossene Reformstaatsvertrag der Bundesländer fordert aktuell die Reduktion der ARD-Hörfunkprogramme von 70 auf 53.

Die gesammelten Erinnerungen an das Radio wollen kein „Abgesang“ und „Requiem“ auf das Medium sein. Angesichts der gegenwärtigen Legitimations- und Finanzkrise des ÖRR liest sich der ironisch auf Verächter der neuen Musik gemünzte Buchtitel „Schalten Sie ab!“ jedoch wie eine politische Direktive zu weiterem Abbau von Kulturradios. Den Band beenden Literaturverzeichnis, Personenregis­ter und eine Auflistung vergangener und gegenwärtiger Konzertreihen und Festivals neuer Musik des ÖRR. Wünschenswert gewesen wäre auch eine Statistik zur Präsenz der neuen Musik im deutschen Rundfunk nach 1945.

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