Am 28. Mai 2025 wäre der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass publizieren wir das vermutlich letzte Interview, das er dem Musikjournalisten Burkhard Schäfer gegeben hat: ein Gespräch über das Klavierlied, Volks- und Popmusik, Musikvermittlungsprobleme, den musikalischen Ausverkauf und das Altwerden.

Regentropfen – gefangen? Foto: Hufner
„Wenn so etwas tot ist und tot bleiben will, dann nützt keine Anstrengung“ – Dietrich Fischer-Dieskau im Gespräch mit Burkhard Schäfer
Burkhard Schäfer: Herr Fischer-Dieskau, es gibt zurzeit verschiedene Aktionen und Aufklärungsarbeit rund um das Volkslied. Was halten Sie davon?
Dietrich Fischer-Dieskau: Hektische Betriebsamkeit alleine bringt gar nichts. Alle diese Aktionen sollten sich umschauen und ein Vorbild nehmen an Nationen wie Japan, Frankreich oder auch England. Dort gibt es eine große Auswahl an Volksliedschätzen, die normalerweise dann gesungen werden, wenn viele Menschen zusammenkommen. Treffen sich ein Club oder ein Verein und wird es bei dieser Gelegenheit irgendwie musikalisch, werden dort ganz selbstverständlich auch Volkslieder gesungen.
Ist die Tradition des Volksliedes in Deutschland tot?
Ja. Das Volkslied lebt bei uns kaum überhaupt noch im Volksmund.
Liegt es vielleicht auch daran, dass dem Volkslied in Deutschland entweder der Geruch des Nationalen oder des Gesangskränzchenhaften anhaftet?
Das mag sein. Dabei leidet doch wirklich noch ganz anderes Liedgut, zum Beispiel das Klavierlied als Kunstgattung. Bei großen Komponisten wie Haydn, Beethoven oder Weber finden sich wirklich lohnende Hinweise auf deren frühere Forschungsarbeit, was das Volkslied betrifft. Beethoven hat ein ganzes Jahr keine eigenen Kompositionen geschrieben und die Zeit dafür genutzt, mit Klaviertrios aller Nationen Volkslieder zu sammeln und wiederzugeben. Zum Teil sind da sehr schöne Lieder entstanden. Zum Teil sind sie allerdings auch nicht so wichtig.
„Sie bekommen das Klavierlied nicht wieder lebendig, da es an schöpferisch überzeugendem Nachschub fehlt.“
Was kann man Ihrer Meinung nach unternehmen, um die verschollene Liedgattung wieder unter die Menschen zu bringen?
Ich glaube, dass alle Anstrengungen vergeblich sind. Wenn so etwas tot ist und tot bleiben will, dann nützt keine Anstrengung. Sie bekommen das Klavierlied nicht wieder lebendig, da es an schöpferisch überzeugendem Nachschub fehlt. Es hat sich in der Neuzeit nicht ergeben, dass wir so überzeugende Liedproduktionen wie die aus dem vorigen Jahrhundert besitzen. Selbst ein Mann wie der Komponist Aribert Reimann, der wirklich eigene Töne, eigene Formen gefunden hat, um moderne Lyrik musikalisch auszudrücken, hat damit die moderne Liedgattung nicht wieder zum Leben erweckt. Aber er weiß es auch – und die meisten, die es versucht haben, wissen es.
Ist es eine besondere Schwierigkeit der modernen Liedproduktionen, dass ihre Melodien nicht tonal sind?
Genau das ist eines der Hauptprobleme. Sie können auch einen reinen Zwölftöner von Schönberg – es gibt nur wenige Lieder dieser Art, aber machen Sie den Versuch! – nicht nachsingen. Das ist nicht möglich. Sie können zwar die Noten auswendig lernen, selbstverständlich, aber das ist doch noch nicht alles. Ich habe eine Aufführung von Moses und Aron unter Kent Nagano gesehen, der an den Noten hing und taktierte. Aber es ist völlig gleichgültig, ob jemand im Zuschauerraum etwas von den Noten dort versteht, ob jemand was behält. Niemand behielt etwas, vielleicht die letzten Worte von Moses und vielleicht die Stelle mit dem goldene Kalb. Diese Stellen sind schon wichtig, aber sie sind im Endeffekt nur kleine Hinweise, kleine Erinnerungsstützen an etwas, das einmal wichtig gewesen ist.
Wo liegt dann der ästhetische Genuss?
Das ist eine interessante Frage. Wenn Sie aber auf der anderen Seite nur davon ausgehen, dass nur das Merkbare, das, was im Gehirn und auch in der Kehle bleibt, in der Musik einen Wert hat, dann landen sie ganz schnell bei der Popmusik, die uns überflutet und aus der wir gar nicht mehr herauskommen. Das ist doch heute unsere Volksmusik, das kennen alle Leute und darin wissen sie Bescheid. Ich kann damit nichts anfangen. Da ist mir die Unterhaltungsmusik der zwanziger und dreißiger Jahre noch lieber. In ihr ist wenigstens ein Rest von Melodie zu spüren, die sich behalten lässt. Aber die Popmusik, die oft nur auf zwei Tönen basiert und mit simplen rhythmischen Verschiebungen immer wieder neu zusammengestellt wird, ist ganz und gar nicht meine Welt.
Wurde nicht ein Komponist wie der Engländer Benjamin Britten in den 60er Jahren von der Beatlemania überrollt?
Oh ja. Er ist auch krank geworden und gestorben.
Sie meinen, er starb an den Beatles?
Nicht direkt an den Beatles, aber schon an der Entwicklung der Musik. Benjamin Britten war eine große Persönlichkeit und ich bin überzeugt, dass er zu einem großen Anteil an der bis dahin sichtbaren Rettung der klassischen Musik seinen Teil hat. Benjamin Britten hat wirklich etwas geleistet. Aber leider ist er ohne Nachfolger geblieben.
Kann es zwischen den Gattungen Klassik und Popmusik keine Brücke geben?
Diese Bereiche stehen unversöhnlich nebeneinander. Selbst wenn sich die Gattungen einander nähern sollten, ist das doch immer noch nicht ein Übereinstimmen. Es entsteht keine Situation, in der das Gemeinsame etwas bringt. Das kann nicht klappen, weil verschiedene Gemüter angesprochen werden. Das Entstehen von Klassik und Pop hat jeweils andere Voraussetzungen. In der Klassik hängen die Kompositionen von genialen Persönlichkeiten ab. Einzelfiguren, die sich nicht darum scheren, was um sie herum geschieht. So wie Schumann, der sich ganz alleine etwas zusammengezimmert hat.
„Niemand kann die Klassik ohne das Einbeziehen der Eltern vermitteln.“
Jeder spricht gerade von Vermittlung. Wie kann man die Klassik heute noch vermitteln?
Niemand kann die Klassik ohne das Einbeziehen der Eltern vermitteln. Und wenn die Eltern keine Ahnung haben und auch nicht haben wollen, wird sich da gar nichts tun.
Geht wirklich alles über das Elternhaus?
Zumindest zu großen Teilen. Es gibt ja sehr viele Eltern, die von nichts eine Ahnung haben und die sich überraschen lassen. Sie versuchen im Konzertleben ein bisschen zu folgen, was ich schon oft erlebt habe. Das sind dann schon wichtige Baustellen, bei denen man einhaken kann um wieder einen neuen Weg zu finden. Nur leider bricht es auch immer wieder ab.
Erleben Sie auch mehr Aktivitäten auf dem Gebiet der Klassikvermittlung?
Wir haben soviel Hektik, wie wir nie hatten auf klassischem Gebiet, und die jungen Leute haben trotzdem gar keine Ahnung von dem, was hinter ihren Sachen steht, von dem, was sie sozusagen als Kulisse umgeben müsste. Manche kommen und sagen: „Wie hieß doch der Schubert mit Vornamen?“ Die Unbildung grassiert wirklich in diesem Ausmaß. Wir haben gar nicht die Zeit als Lehrer, diese Art von Unterricht zu geben. Den müssten sie an den Hochschulen auch noch bekommen, was aber nicht geschieht.
Wo müssten die verantwortlichen Stellen ansetzen, um erfolgreicher zu sein?
Selbstverständlich müsste sich in Bezug auf die Musik schon in der Schule das Fach Musik ändern.
Wie stellen Sie sich die Musik in der Schule ideal vermittelt vor?
Das Fach Musik müsste in der Schule ganz andere Bereiche umfassen und es wäre erforderlich, ihm viel mehr Zeit einzuräumen. Stattdessen wird ja immer mehr weggestrichen. Der Lehrplan beinhaltet hauptsächlich Kürzungen, gerade auf dem künstlerischen Gebiet.
Der Pianist Martin Stadtfeld geht in Schulen und spielt Kindern mit Erfolg auch traurige Stücke vor. Wollen Kinder gar nicht immer nur die lustigen Sachen hören?
Aber nein, Kinder wollen nicht immer nur das Fetzige. Das meinen nur ein paar Erwachsene. Wir haben zu wenig qualifizierte Leute, denen die Zeit gegönnt wird, sich mit den Kindern in dieser Hinsicht lange genug zu beschäftigen. Wenn Kinder auch mit klassischer Musik in Kontakt kommen und sie hören, würden sicherlich noch mehr auf die Idee kommen, da folgen zu wollen.
Haben Sie sich gerne mit modernen Komponisten beschäftigt oder fühlen Sie sich als Sänger doch eher dem Kanon der Klassik und der Romantik verbunden?
Ich habe aus Neugierde, Einsatzfreudigkeit und Wagemut unendlich viele Uraufführungen gesungen. Viel mehr, als ich je gedacht hätte. Die meisten dieser Werke haben aber nicht mal mehr eine Wiederholung erlebt. Das ist natürlich traurig, trotzdem realistisch.
Schlummern da noch Schätze in den Archiven, die veröffentlicht werden könnten?
Es werden zum Beispiel von Firmen wie Arthaus dauernd Sachen veröffentlicht, die weit zurückliegen. Nur weil sie so alt sind, dass die Plattenfirmen kein Geld dafür zahlen müssen. Das ist für sie das wichtigste. Wäre dies nicht der Fall, würde eine ganze Menge gar nicht mehr veröffentlicht werden.
Finden Sie selbst noch Sternstunden unter den alten Aufnahmen?
Ganz wenige. Ich zähle dazu zum Beispiel Karl Amadeus Hartmann – der ist heute fast vergessen. Das war damals eine inhaltreiche Schatulle der Deutschen Grammophon, mit sämtlichen Sinfonien und eben auch dem Werk, das ich uraufgeführt habe. Aber für die Lebensgeschichten der meisten dieser Komponisten lautet die große Überschrift: „Nicht geschafft!“
„Beim Hören muss man aktiv mitarbeiten.“
Wieso haben es so viele Komponisten nicht geschafft?
Es fehlt eben jener Teil des Publikums, der sich heute von der Klassik ab- und dem Pop zuwendet. Es fehlen unendlich viele ehemalige Verehrer der anspruchsvollen Musik, die eine Mitarbeit beim Hören nicht scheuen. Beim Hören muss man aktiv mitarbeiten.
Heißt mitarbeiten auch Partitur lesen?
Einfach hören. Es bedeutet, diese Anstrengung richtig zu machen. Ich mache das jeden Tag eine Stunde, um das Gehör einigermaßen lebendig zu erhalten. Sonst stirbt mir das auch noch ab, wie die Beine und die Arme. Das ist alles sehr traurig. Alt zu werden kann ich niemandem empfehlen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Fischer-Dieskau.
- Das Interview führte Burkhard Schäfer. Dietrich Fischer-Dieskau starb am 18. Mai 2012
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