Vor 70 Jahren, am 7. September 1943, wurde im Berliner Gefängnis Plötzensee der 27-jährige Pianist und Hitler-Gegner Karlrobert Kreiten mit dem Fallbeil hingerichtet. Vier Tage zuvor hatte Roland Freisler, der berüchtigte Präsident des „Volksgerichtshofes“ den ehemaligen Schüler von Claudio Arrau wegen „Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt.
Arrau sagte am 18. Mai 1983 in der „Frankfurter Rundschau" über seinen einstigen Schüler: „Karlrobert Kreiten war eines der größten Klaviertalente, die mir persönlich je begegnet sind.“ Er wäre fähig gewesen, „in der Reihe nach Kempff und Gieseking zu folgen.“ In Plötzensee, heute eine Gedenkstätte, ist eine Kopie des Todesurteils mit Begründung in einer Vitrine ausgestellt.
Freisler, ein fanatischer Nazi, begründete sein Terrorurteil damit, dass der Künstler „mitten im totalen Krieg die kämpferische Widerstandskraft einer Volksgenossin durch niedrige Verunglimpfung des Führers zu zersetzen versucht“ habe. Freisler hatte auch das Leben der Geschwister Scholl und das der Widerstandskämpfer, die am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt waren, auf dem Gewissen.
Während der Tragödie von Stalingrad hatte Kreiten Ende Januar 1943 einer Freundin seiner Mutter erklärt, der Krieg sei bereits verloren und führe zum völligen Untergang Deutschlands und seiner Kultur. Hitler sei krank und einem solchen Wahnsinnigen sei das deutsche Volk ausgeliefert. In zwei bis drei Monaten werde es eine Revolution geben und dann würden Hitler, Göring und Goebbels „einen Kopf kürzer gemacht“.
Die Frau zog zwei ihr gut bekannte NS-Frauenschaftlerinnen ins Vertrauen und berichtete ihnen über Kreitens Ansichten. Die denunizierten den Künstler bei der Reichsmusikkammer. Doch dort unternahm man nichts. Darüber erbost, schalteten die beiden „Nazissen“ nun die Gestapo ein, die Kreiten am 3. Mai während einer Tournee in Heidelberg verhaftete. Am Abend dieses Tages wollte Kreiten im Audimax Beethovens „Appassionata“, „Präludium und Fuge“ von Bach/Busoni, die Etüden von Chopin und die „Spanische Rhapsodie“ von Franz Liszt vortragen. Das Konzert war schon seit Wochen ausverkauft. Doch die Besucher fanden abends an der Tür nur einen Zettel: „Kreiten-Konzert fällt aus“. Eltern, Freunde und Furtwängler setzten sich vor allem bei Goebbels für den jungen Pianisten ein. Vergebens.
Knapp zwei Wochen nach Vollstreckung des Todesurteils hieß es in einem Leitartikel des Berliner „12-Uhr-Blattes“ am 20.September: „Wie unnachsichtig jedoch mit einem Künstler verfahren wurde, der statt Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung Verzweiflung stiftet, ging aus einer Meldung der letzten Tage hervor, die von der strengen Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers berichtete. Es dürfte heute niemand Verständnis dafür haben, wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen.“
Unterzeichnet war der Hetzartikel von Werner Höfer, der nach dem Krieg als Leiter des „Internationalen Frühschoppens“ zu einem sehr bekannten Rundfunk- und Fernsehmoderator der Bundesrepublik Deutschland aufstieg. Ende 1987 deckte der „Spiegel“ diesen Skandal auf. Höfer, schon im März 1933 in die NSDAP eingetreten, bestritt, diesen Artikel geschrieben zu haben. „Das ist hineinredigiert worden“, erklärte der am 26. November 1997 in Köln verstorbene Journalist immer wieder. Doch niemand glaubte ihm. Er trat von seinem Amt zurück.
Kreiten war am 26. Juni 1916 als Sohn des holländischen Konzertpianisten und Komponisten Theo Kreiten (1887–1960) in Bonn geboren worden. Seine Mutter Emmy, eine Mezzo-Sopranistin, stammte aus dem Elsass. Die Eltern zogen kurz nach der Geburt des Sohnes nach Düsseldorf um, wo der Vater eine Professur erhalten hatte. Bereits mit zehn Jahren trug der Junge in der Düsseldorfer Tonhalle Mozarts D-Dur-Sonate vor. Nach seinem ersten Radiokonzert urteilte die „Rundfunkzeitung“ am 5. Februar 1927: „Als ein ausgesprochenes, erstaunlich reifes Klaviertalent offenbarte sich der zehnjährige Karlrobert Kreiten. Drei Jahre später holte ihn Professor Peter Dahm (1877–1947) in seine Klavierklasse an der Musikhochschule Köln. Nach einem weiteren Studium in Wien übersiedelte er 1937 nach Berlin, um Schüler Claudio Arraus zu werden. Er lernte bei seinem großen Meister bis zu dessen Weggang aus der Hauptstadt 1940.