Zum zweiten Mal fanden im November letzten Jahres die vom AMJ veranstalteten Vokaltage in Wolfenbüttel statt. Zu Gast waren Bariton Christoph Pohl und Pianist Tobias Krampen mit Schuberts „Winterreise“, einen Tag später gefolgt vom polnischen A-cappella-Ensemble Affabre Concinui. Am Sonntag gingen die Vokaltage mit einem Konzert des Mädchenchores Skowronki, ebenfalls aus Polen angereist, zu Ende. Besonders Jugendlichen soll im Rahmen der Vokaltage die Möglichkeit gegeben werden, mit Vokalmusik in Berührung zu kommen und ihre Vielfalt zu erfahren.
Freitag, 26. November 2010, 19.50 Uhr. Einige Jugendliche unterhalten sich aufgeregt und lachen. Vor ihnen liegt ein Abend voller Musik. Stellt man sich ein solches Szenario vor, würde man es in der Diskothek oder bei einem Rock-Konzert erwarten. Doch die Schüler sitzen im Konzertsaal der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und warten darauf, dass Christoph Pohl und Tobias Krampen die Bühne betreten. Und keineswegs moderne Musik des 21. Jahrhunderts spielen, sondern einen Zeitsprung in das Jahr 1827 machen: zu Franz Schubert und dem von ihm komponierten Liederzyklus, der „Winterreise“.
Zum Konzertbesuch inspiriert wurden die Schüler durch Schulbesuche in Wolfenbüttel und Braunschweig. Dafür sind die Künstler extra früher angereist und lockern die Stimmung gleich auf: „Wie ist das für euch, wenn Typen wie wir kommen und Schubert singen?“ Es soll kein Unterricht gehalten werden, sondern ein Gespräch stattfinden. Die Schüler fragen nach den Erfahrungen der Künstler mit dem Liederzyklus und wie es ist, beruflich Musik zu machen. Einige erzählen, sie hätten die Winterreise selbst schon im Musikunterricht gesungen oder gehört. Für manche ist sie Abwechslung zur Musik im Radio, für andere die erste Erfahrung mit klassischer Musik. Jemand sagt: „Ich finde es interessant, wie aktuell das Thema der Winterreise heute noch ist. Und dass man sie so unterschiedlich interpretieren kann.“ Darauf gehen Christoph Pohl und Tobias Krampen gerne ein und zeigen am Beispiel des Liedes „Gute Nacht“, wie Zorn, Angst, Wehmut und Spott klingen und den Text jedes Mal in ein anderes Licht stellen. Und dann ist die Unterrichtsstunde auch schon vorbei – schneller, als so manch einer gedacht hätte.
Ähnlich verläuft es mit dem A-cappella-Ensemble Affabre Concinui, das vor 130 Schülern einen kleinen Einblick in sein Repertoire gibt. Die Jugendlichen wollen wissen, wie sich das Ensemble gegründet hat und was die schönste Erinnerung an ein Konzert ist: „Jedes Konzert ist für uns eine schöne Erinnerung. Wir freuen uns, wenn wir Menschen mit unserer Musik eine Freude machen und sie lachen sehen!“ Auf Nachfrage, warum er so hoch singen könne, macht Countertenor Robert Hylla vor, wie eine Kopfstimme beim Sprechen und Singen klingt und wie hoch er – im Gegensatz zu seinem Kollegen im Bass – singen kann. „Respekt!“, raunt es da aus der hintersten Reihe. Ein Musiklehrer stellt hinterher fest: „Sie hatten hier das ehrlichste Publikum, das man haben kann. Und diese Jugendlichen waren begeistert!“ Zwei Tage später lauschen die Schüler gemeinsam mit den anderen Besuchern gespannt den Liedern Schuberts. Manche Schüler sind so begeistert, dass sie nach dem Konzert auf die Künstler warten, um noch einmal mit ihnen zu sprechen. Ein Vater berichtet später per E-Mail, seine Tochter habe durch Schulgespräch und Konzertbesuch nun einen Zugang zur Oper erhalten – das habe er in vielen Jahren mit seinen Einladungen zu diversen Opern nicht erzielen können.
Am nächsten Tag kommen viele Besucher des Vortages erneut in die Bibliothek, um diesmal Affabre Concinui zu erleben. Ein Kontrastprogramm zu Schuberts Winterreise – werden doch unter anderem Unterhaltungssongs der 50er- bis 70er-Jahre und Barockminiaturen gesungen. Aber das sollen die Vokaltage ja zeigen: Vokalmusik ist vielfältig! Und das Publikum lernt, dass sie auch spontan sein kann: Die Blumensträuße, die als Dankeschön an die Künstler übergeben wurden, werden in der Zugabe kurzerhand zu Lufttrompeten umfunktioniert.
Traditioneller wird es am Sonntag beim Konzert des Mädchenchores Skowronki in der Trinitatiskirche. Die Mädchen, die zwischen 11 und 18 Jahre alt sind, singen in diesem Konzert nicht nur, sondern zeigen auch kleine Choreographien. Passend zum 1. Advent präsentiert der Chor Advents- und Weihnachtslieder aus verschiedenen Epochen und Ländern: „Noel nouvelet“ aus Frankreich und das „Gaudete“ aus Skandinavien schaffen zusammen mit Werken aus der Heimat des Mädchenchores eine besinnliche Stimmung. Weiterhin erklingen Teile aus Vivaldis berühmtem „Gloria“. Immer wieder treten einige der Mädchen als Solistinnen aus dem Chor hervor – der Zuhörer kann in solchen Augenblicken nur staunen, wie professionell die Jugendlichen auch die schwierigsten Stellen ohne Patzer präsentieren. Am Ende gibt es dafür viel Applaus. So sind die Vokaltage nach fünf Tagen voller Musik schon wieder zu Ende – und manch einer wünscht sich, sie hätten noch länger gedauert. „Kann ich mir für nächstes Jahr wieder das letzte November-Wochenende für Ihre Konzerte freihalten?“, fragt ein Besucher nach dem Konzert. Und er kann: Denn vom 25. bis 27. November 2011 werden die Vokaltage erneut in Wolfenbüttel stattfinden!