Banner Full-Size

Demokratiebildung und Pluralitätstraining

Untertitel
Wie Kunsterfahrungen zur politischen Kultur beitragen können
Vorspann / Teaser

Kassandrarufe über unser Bildungssystem sind eigentlich genug gesprochen. Allseits bekannt, aber gleichzeitig auch verschrien, ignoriert und marginalisiert wurde die Seherin, sodass erst ein ABBA-Song eine längst überfällige Entschuldigung aussprechen sollte: „Sorry Cassandra, I didn’t believe.“ Die immer wieder neu formulierten Cassandra-Codes zu Fragen der Bildung mischen sich reißerisch in Buchtitel ein, die Rede ist von der „Geisterstunde“ oder einer „Theorie der Unbildung“ (Liessmann), vom „Mythos Bildung“ (El-Maafalani), als hätte Kassandras Rufen sich nicht längst durch die Dekonstruktion allen menschlichen Strebens in Goethes „Faust“ erledigt: In den kritisch denkenden Wohnbezirken müsste das Ringen um die symbolische Macht und deren Widersprüchlichkeiten bereits eingezogen sein, haben sie doch in der Weltliteratur längst ihren Widerhall gefunden. Darum sind es auch nicht mehr nur die Vorzeichen einer lange schon postulierten „Bildungskatastrophe“ (Picht), wenn inzwischen jedes Stammtischgespräch zum Bildungsgipfel wird. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Zwar greift hier, dass wir in der Schule die gesellschaftlichen Probleme nicht lösen können, aber dürfen wir uns in den immer noch reflexartig vorgetragenen Beschwichtigungen begnügen, dass in jeder Krise eine Chance läge? Warum behalten wir unsere Scheuklappen auf in der Gewissheit, einem System ausgeliefert zu sein und nichts ändern zu können? Warum verdrängen wir, um nicht handeln zu müssen?

Schule ist letztlich nichts mehr als der Spiegel unserer Gesellschaft, und darum gestalten wir diesen Ort aus gutgemeinten Gründen auch so, um junge Menschen auf das hier zu spiegelnde Leben vorzubereiten: Alles in unserem Leben scheint einem Zweck unterworfen, wir wiegen und vergleichen uns in Endlosschleifen der Kompetenzimperative, als wäre das Leben ein einziger PISA-Test. Wir ergeben uns in Fitnessprogrammen, optimieren unser Selbst im straff organisierten Freizeitdruck, ökonomisches Denken nach betriebswirtschaftlichen Kriterien erscheint überall. Dabei rennen wir einem Idealzustand nach und erleben uns als ein von der Norm abweichendes Wesen, das es stets aufs Neue zu verbessern gilt. Aufgezogen in solch einer Lebens- und Handlungspraxis begegnen wir in der Schule wiederum ein in sich geschlossenes System, um dann genau das wiederzufinden, was es doch eigentlich zu hinterfragen gilt. Auch deshalb bleibt das System Schule weitestgehend kritikresistent, auch deshalb kann uns nichts von diesem einmal eingeschlagenen Kurs abbringen, auch deshalb neigen wir dazu, alle Hintergrundgeräusche der Kassandra wegzufiltern: „Starre Systeme sind starke Systeme, in denen jeder Zweifel zum subversiven Akt wird“, schreibt Jürgen Wertheimer in seinem Essay „Sorry Cassandra“, in dem er uns erklärt, warum wir zwar vieles lernen, dabei aber nach wie vor unbelehrbar bleiben. Letztlich richtet sich jede Kritik, jeder subversive Akt gegen genau das Leben, das wir führen, richten wir jede Kritik an Schule auch gegen uns selbst.

Musik soll hellhörig machen

Eigentlich sollten Kunst- und Kulturschaffende am hellhörigsten reagieren auf die Rufe der Kassandra, behaupten sie doch allzu gerne, Kunst sei ein empfindlicher Seismograph der Wirklichkeit. Und wer sich mit Musik beschäftigt, sollte es schließlich gelernt haben, zu hören. Doch während für die bildenden Künste, die Literatur und das Theater eine kritische Positionierung durchaus in Anschlag gebracht werden kann, ist einem großen Teil der musikalischen Praxen eine solche weitgehend fremd. Gerade die abendländische Kunstmusik ist ein Teil des hier bereits beschriebenen Systems, das damit auch in die Musikräume hineingetragen wird: Künstlerische Höhepunkte scheinen ohne beständige Leistungsansprüche, ohne eine Optimierung des Humanen, die tief in die Lebens- und Handlungspraxis des Einzelnen eingreift, nicht denkbar. Im Musizieren begründet sich kein kritischer Reflex auf bestehende Realitäten, hier bestärkt sich eher das, was ohnehin in der Gesellschaft vorgelebt wird: Mit Beginn des industriellen Zeitalters wird auch in der Musik „gearbeitet“, die Anweisungen des Klavier-„Pädagogen“ Heinrich Ehrlich, man möge seinen Anschlag mit Blick auf die preußischen Tugenden und den stets Gutes bewirkenden Stechschritt der Soldaten optimieren, wirken heute anekdotisch, waren aber durchaus ernst gemeint. Und auch danach änderte es sich leider nicht, dass Musik geradezu missbraucht wurde, um ein bestehendes System zu stärken. Das ist heute in der Schule nicht anders, wenn sich Musik verfügbar halten muss, um mit einheitsstiftenden Klängen die Bestenlese bei den Abiturfeierlichkeiten zu untermalen. 

Lernen muss demokratisch gestaltet werden

Mit Musik geht alles besser, Musik schafft Gemeinschaft, hier erzielen wir Gleichklang. Und wenn wir dann das Schulorchester oder gar ein Landesjugendorchester hören, in dem sich jene Bildungselite versammelt, die sich vom System hat stählen lassen, kann Musik zum Schutzdamm werden, der uns von der Wahrnehmung aller kritischen Momente regelrecht abschirmt. Schließlich wird doch bewiesen, dass es auch unter den bestehenden Koordinaten immer noch Jugendliche gibt, die sich die nötigen Freiräume erkämpfen, um sich in elitefördernden Enklaven der Schwerkraft gesellschaftlicher Realitäten zu entziehen und sich dem eigenen Wettbewerb zu stellen. Und die in vielen Bundesländern heraufziehende Verlängerung des Systems um ein weiteres Schuljahr propagiert zusätzlich ein beschwichtigendes „ruhig-weiter-so“, sie verspricht ein ruhigeres Fahrwasser, in dem sich das unsinkbare Geisterschiff nicht vom Kurs abbringen lassen möchte. Diese Optimismuspatrone scheint allerdings bereits verpufft, weil klar geworden ist, dass an die Rückkehr in ein altes Leben „G9“ nicht zu denken sei, in jenes Leben, das einen alten „Schatz der Erfahrung“ wecken und mehr Räume für eine freiere Entfaltung der musikalisch-kulturellen Bildung öffnen wollte. Längst sind die vermeintlichen Leerstellen von weiteren und dringend nötigen Bildungsinvestments belegt: So wurde über die Einrichtung neuer Fächer wie Medien- und Demokratiebildung diskutiert, als ließe sich dieSystemrelevanz dieser zweifellos wichtigen Inhalte und die Glaubwürdigkeit des Handelns nur an der Existenz einer wöchentlichen 45-Minuteneinheit messen.

Vielfach tun wir in der Schule so, als wären wir die Leidtragenden, machen andere zu Akteuren unseres Schicksals, als läge die Verantwortung nicht bei uns. Dabei handelt es sich bei den Bildungsplänen weder um einen geheiligten Urtext noch um Gesetzestafeln, die auf dem Berg Sinai oder im noch heiligeren Kultusministerium übergeben werden, sondern um das Ergebnis eines demokratischen und partizipativ ausgehandelten Prozesses: Treten wir hier in den verschiedenen Fachverbänden genügend dafür ein, dass Kassandras Stimmen hörbar bleiben? Ist es gerade das beständig Unruhe stiftende Reformgewitter, das uns lähmt, ein Kartell des Verschweigens stabilisiert und letztlich die gebotene Partizipation verhindert?

Schule kann nur zur Demokratiebildung beitragen, wenn Schule selbst demokratisch gestaltet ist. Das gilt für die Organisationsstrukturen wie für den Unterricht selbst: Dass dies nur äußerst bedingt gelingen kann, wenn ein Musikneigungskurs seine eigenen Neigungen nicht entfalten kann, sondern sich vor landesweit zu verhandelnden Sternchenthemen zu verneigen hat, muss hier wohl nicht näher verhandelt werden. Solch ein Musikunterricht im Gleichklang trägt wenig zur Demokratiebildung bei. Sollte nicht gerade den Künsten die Eigenschaft zugesprochen werden, Widersprüche zu produzieren, um zumindest auf der Bühne kritisch zu hinterfragen, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen?

Auch in der Musik selbst erleben wir antidemokratische Grundhaltungen: Der Dirigent gilt als ein verkappter Diktator, wie er von Celibidache beschrieben, von den meisten „Art“-Genossen verkörpert und auf der anderen Seite des Taktstocks erlebt wird. Vor einem solchen versammeln sich dann all jene, die es von Kindesbeinen an gewohnt sind, beherrscht zu werden: regiert vom heiligen Urtext, von den Unterweisungen ihres Instruktors, von einem System, das ihnen erst den Zugang in ein Berufsorchester gewährt hat, weil sie Mozart so spielen, wie er sich in den Klang der Gruppe einfügt. Getragen von der Idee, mit dem Taktstock würde ein energetischer Raum eröffnet, indem sich die verschiedenen Hierarchien im gegenseitigen Dialog frei entfalten, ließe sich mit gutem Willen auch im Orchester von Demokratiebildung, zumindest aber von einer Gewaltenteilung sprechen. Das Orpheus Chamber Orchestra handelt seit seiner Gründung 1972 nach der Maxime „We don’t need no education“ und spielt ohne einen Dirigenten.

Statt im Gleichklang zu schweben, sollte uns die Erfahrung von Kunst eigentlich ein Pluralitätstraining vermitteln: Für popularmusikalische Praxen ist es selbstverständlich, dass sie im gemeinsamen Aushandlungsprozess, eben aus dem Moment heraus, entsteht. Wer selbst in einer solchen Demokratie musikalisch aufgewachsen ist, bedient sich nicht eines instruierenden Erklärmodus, um erdeuten zu lassen, das Fagott sei immer der Großvater. Wer es gewohnt ist, sich ergebnisoffen in einen Musizierprozess einzulassen, der wird auch eher einen Unterricht mit offenem Ausgang zulassen; wer den Autodidakten Jimi Hendrix bewundert, wird sich eher auf selbstorganisierte Lernprozesse einlassen, um dabei zu entdecken, dass Johann Sebastian Bach sich als komponierender Autodidakt verstand, Frédéric Chopin seinen formellen Unterricht mit zwölf Jahren beendete und der Filmkomponist Hans Zimmer diesen nie begann. Wenn Kunsterfahrungen zur politischen Kultur beitragen wollen, müssen wir uns diesen neuen Formen des Lehrens und Lernens öffnen.

Print-Rubriken