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Schwarzweißbild eines Mannes mit schwarzen Haaren in einem grauen Anzug, der zuhörend eine Hand ans Kinn hält.

Siegfried Thiele. Foto: Archiv

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Labile Abneigungen und eine Leier

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Späte Besuche bei dem Komponisten Siegfried Thiele
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Siegfried Thiele auf unterschiedliche Arten zu erleben, war uns kurz vor der Pandemie mehrfach vergönnt: Bei zwei reichhaltigen Vorträgen über Machaut und tieferliegende Rhythmen bei Bach, die der rüstige Professor auf Einladung von Bernd Franke an der Uni Leipzig hielt, sowie bei mehreren privaten Besuchen im Haus des Künstlers.

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Diese Besuche erlebten wir als Momente intensiven Austauschs – auf Augenhöhe: ein uns Studierenden wohlwollendes Zugeneigtsein nach anfänglich strenger Musterung. Offenheit in allen Themen war für Siegfried Thiele selbstverständlich. Wir sprachen über Biographisches: Erste Lehrstunden in Chemnitz, ein frühes Kennenlernen der Musik Josef Matthias Hauers, das Jahrzehnte später zu fruchtbaren Studien und kompositorischer Auseinandersetzung führte und 2012 in einem grandiosen Streichtrio in Gedenken an den Tropen-Lehrer gipfelte. Thieles Ausbildung in Leipzig wurde thematisiert; an die Panzer, die im Juni 1953, als er nach Leipzig kam, noch das Stadtbild prägten, erinnerte er sich genauso wie an die anschließende strenge Prüfung durch Wilhelm Weismann und Hermann Heyer, dessen Wirken in Leipzig Thiele auffallend hervorhob, der heute aber im Bewusstsein der Musikstadt fehlt.

Die Leipziger Musikhochschule ist aus der Biographie von Siegfried Thiele nicht wegzudenken. Einst dort Student, kehrte er nach einigen Jahren als Musiklehrer in Radeberg und Wurzen 1962 an die Hochschule zurück, um hier in den folgenden 37 Jahren lehrend als Dozent und ab 1984 als Professor zu wirken. Als es nach der Wende darum ging, eine unbelastete und vertrauenswürdige Person als Rektor für die anstehenden stürmischen Jahre des Umbruchs zu gewinnen, kristallisierte sich sehr schnell heraus, dass eigentlich nur Siegfried Thiele diese Aufgabe wahrnehmen könnte. Die aufreibenden Jahre seiner zwei Amtszeiten als erster frei gewählter Rektor der heutigen Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ bis 1997 verschlangen Zeit und Kraft, sodass in dieser Zeit nur wenige neue Werke geschaffen wurden.

Als Kompositionslehrer und Professor an der Leipziger Musikhochschule übte Thiele gegenüber seinen Studierenden einen allseitigen Einfluss aus. Voller Wärme und Dankbarkeit kann man etwa Steffen Schleiermacher, Bernd Franke und Thomas Heyn über ihren Lehrer davon reden hören, dass Thiele sie nicht nur mit gewissenhafter Strenge anleitete und ihnen über die Musik hinaus unzählige Hinweise zu Literatur und Geistesleben mitgab, sondern seinerseits immer wieder offen war für ihm Unbekanntes, auch Wesensfremdes. „In seinen Abneigungen zuweilen labil“ zu sein, ist ein beliebtes Bonmot unter Siegfried Thiele Zugeneigten, das er selbst prägte.

Natürlich wurden in unseren Gesprächen die langen Jahre in der DDR ausgiebig und kritisch diskutiert. Dabei zeigte er Zustimmung zu unserem Ansatz, die Musik der DDR aus ihren spezifischen Bedingungen heraus verstehen zu wollen, die sich vielfältig änderten. Bei aller Konkurrenz in der Zunft der Musikschreibenden und auch wissend um die Gesamtsituation in der erlebten Diktatur, empfand Thiele trotzdem nicht nur im Nachhinein die regelmäßigen Kontakte unter Kollegen, die der Komponistenverband der DDR ermöglichte, mehrheitlich als anregend. Überhaupt pflegte Siegfried Thiele Bekannt- und auch Freundschaften, auch zu internationalen Größen der zeitgenössischen Musik. Besonders hervorzuheben ist hier das regelmäßige Zusammentreffen mit Witold LutosÅ‚awski, der Leipzig und auch Thiele oft besuchte. Diese Freundschaft schlug sich bald auch in den Kompositionen Thieles nieder, der sich mit den Möglichkeiten aleatorischer Gestaltungsweisen auseinandersetzte und die bis zuletzt immer wieder Bestandteil seiner Musik geworden sind.

Auch Thieles Kompositionen waren Inhalt unserer Treffen. Wir vermittelten unsere Eindrücke und erfuhren Allerlei zu den Umständen ihrer Entstehung, zuweilen über deren tieferes musikalisches Innenleben. Sein umfassendes Interesse an Phänomenen der Natur führte ihn beispielsweise dazu, sich, angeregt durch Texte Goethes, in seinen 1976 geschaffenen „Wolkenbildern“ für Kammerorchester mit dem Entstehen und den Strukturen unterschiedlicher Wolkengebilde musikalisch zu befassen. 2000 folgten bei erneuter Sichtung der Goethe-Texte die „Wolkenbilder-Chöre“. Angeregt von diesem Sujet überreichten wir Siegfried Thiele zum Dank bei unserem nächsten Zusammentreffen eine Mappe mit Texten von Hans Jürgen von der Wense. Dieser ihm bis dahin unbekannte umtriebige Universalgelehrte, der auch als Komponist in Erscheinung getreten ist, befasste sich unter anderem ebenfalls mit Wolken. 

Mit sichtlicher Neugier nahm Thiele die Texte bald hervor, studierte sie intensiv und zeigte sich hellauf begeistert von diesen neuen Sichtweisen auf ein ihn langjährig begleitendes Thema. Auf unsere Feststellung hin, dass Thiele nicht für die Bühne komponiert hätte, konterte dieser mit schelmischer Freude, dass es sehr wohl eine Oper gäbe: „Schneewittchen“ entstand in seiner Zeit als Musikschullehrer in Radeberg und Wurzen für die dortigen Ensembles und Kinder. Ins Werkverzeichnis, 2017 von Christoph Sramek gewissenhaft vorgelegt, ist sie dennoch nicht eingegangen.

Und dann sind da noch die „Gesänge an die Sonne“. Kurt Masur wählte unter den Komponisten der DDR Siegfried Thiele aus, um für die Eröffnung des Neuen Gewandhauses 1981 ein neues Werk zu schreiben. Ein Auftrag, den nicht alle seiner Kollegen damals goutierten, war ja damit abzusehen, dass das Potential für einen Skandal durch Thiele, dem musikalisches wie intellektuelles Herumpoltern absolut fremd waren, nicht gegeben war. Gegeben hat es den Skandal aber doch: Die Texte von Goethe, Schiller und Hölderlin wurden kurz vor der Uraufführung allein durch die Anwesenheit von Wörtern wie „Engel“ und „Gott“ von offizieller Seite als störend empfunden. Und dann polterte doch einer herum:  Mit einem Machtwort setzte Kurt Masur die Uraufführung durch, Erich Honecker musste sich die Texte anhören und das Neue Gewandhaus war eröffnet. Leider hat es das Gewandhaus bis heute nicht geschafft, dieses großartige Werk noch einmal zum Erklingen zu bringen.

Neben seiner Musik war es uns auch wichtig, Thiele zu seinem Glauben, seinem Engagement in der Christengemeinschaft zu befragen, wo man ihn mit gleicher Sorgfalt über Musik reden hörte wie an den Hochschulen oder privat.

Diese Sorgfalt, Worte und Töne mit Bedacht zu wählen, sich ausreichend Zeit zu nehmen, sie zu setzen, um so mit großer Klarheit Gedanken zu formulieren, machte Thiele zu einem tief bereichernden Menschen und macht seine Musik zum Erlebnis äußerster Prägnanz.

Unser erstes Treffen im Arbeitszimmer des Komponisten endete in typischer Weise: auf einer Leier wenige Töne anschlagend, dabei jeden Ton wie einen ganzen Gedanken respektvoll ernst nehmend, stellte er uns das Instrument vor. Nachdenken, Abwägen, Suchen und Mitteilen waren Siegfried Thiele und sind seiner entdeckenswerten Musik wesenhaft.

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Schwarzweißbild eines Mannes mit kurzen schwarzen Haaren, der auf Treppenstufen vor einem Einfamilienhaus Schuhe putzt.

Auch Professoren müssen Schuhe putzen: Siegfried Thiele 1976 im Probelager der Musikhochschule Leipzig. Foto: Archiv Heyn

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