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Weiße Kirchenbänke in einer weißen Kirche (in warmes Licht getaucht). Vor dem Altar stehen die Musiker:innen.

Uraufführung der Kantate „Der Leipziger Ring“ in der Nikolaikirche zu Leipzig. Text Andreas Reimann, Musik Walter Thomas Heyn. Foto: privat

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Zwei halbe Leben ganz

Untertitel
Feier zur deutschen Einheit im Saarland
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Doch, da war noch was. Was war denn da gleich? Ach ja, die Feier zur deutschen Einheit, erstaunlicherweise im Saarland. Vermutlich sollte Erich Honecker eine letzte Referenz erwiesen werden. Ach nein, so klar und so dialektisch um die Ecke kann in dieser Regierungsbürokratie niemand mehr denken. Wahrscheinlich gab es vor Jahrzehnten einen Beschluss: rundherum, das ist nicht schwer, Hauptsache weit weg von der Zone der Betroffenen und ordentlicher Wein.

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Passenderweise sprach dann auch kein einziger Ossi, sondern der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Die Rede war lebhaft und leidenschaftlich, so wie nie einer der deutschen Politiker reden würde. Aber am Ende rief der Würdige enthusiastisch aus: „Es lebe die deutsch-französische Freundschaft“, und da hatte ich wieder die Sprüche während der ewig gleichen Freundschaftsfeste mit den Vertretern der Sowjetunion im Ohr, die mit dem gleichen Pathos und mit Wodka statt mit Wein immerzu auf die deutsch-sowjetische Freundschaft anstießen. Und wir mit ihnen. Alle, die wie ich in das 70. Lebensjahr gehen oder bald gehen werden, haben, sofern sie Ossis sind, in beiden Teilen des Landes ungefähr gleich lange gelebt. Und die vergehenden Jahre summieren sich unerbittlich immer weiter zugunsten des jetzigen Systems. Denn 35 Jahre sind eine lange Zeit, und es kostet Mühe, sich an diesen Wirrwarr aus Hoffnungen, Träumen, Utopien und knallharten Realitäten zu erinnern, der 17 Millionen Leben umgekrempelt hat und später als Fußnote der deutschen Nationalgeschichte wahrscheinlich nur wenige Zeilen umfassen wird.

Rostropowitsch, der wunderbare russische Musiker wurde einmal vor vielen Jahrzehnten nach einer Vorstellung von Schostakowitschs Oper „Die Nase“ vom Publikum gefragt, ob er es denn für möglich hielte, dass eine solche Geschichte im Leben passieren könne. Nach langem Nachdenken sagte er zögernd: „Es kommt vor. Aber sehr selten.“ Diese Geschichte fällt mir immer ein, wenn ich über die Wende nachdenke. Eine friedliche Revolution in Deutschland? Ohne einen Schuss, ohne Gewalt, ohne Exzesse? Die Geschichte hat es bewiesen: Es ist sehr selten, aber es kommt vor. Aber das alles soll schon 35 Jahre her sein? Es ist mir nicht besonders angenehm, mich zu erinnern. Hilfreich ist nur die schonungslose Erinnerung etwa an volkseigene Konsumläden, links Rotkohl, rechts Weißkohl, Alkohol bis unters Dach, aber Milch ab 11 Uhr nicht mehr. Gut gegen die Rührung (ach ja, damals; weißt du noch...) sind auch DEFA-Spielfilme, die FDGB-Heime, Aufmärsche, Fahnen und Transparente ins Gedächtnis zurückbringen. Die schäbigen Bruchbuden ohne Bad und Fernheizung und die Braunkohlen- und Abgasgerüche nicht vergessen!

Am hilfreichsten aber ist mir die Erinnerung an die irrwitzige Militarisierung unseres Alltages, die in der 10. Klasse mit dem ersten Wehrlager anfing, mit dem „Ehrendienst“ und den ständigen Bedrohungen durch Reservisteneinberufungen bis weit in die Berufstätigkeit hinein anhielt. Auch nützlich die Erinnerung an vier Wochen in Stiefeln mit scharfer Waffe im Matsch in Nirgendwo, weil die Brudervölker wieder zu heftig an den Ketten gezerrt hatten. Den Gaskrieg und Durch-Napalm-springen hatten wir schon vorher geübt ...

Und was tat ich denn an diesem einmaligen Tag, der begann, wie tausende vor ihm? Ich tat das Gleiche wie am Tag davor und davor und an den vielen, vielen Stunden und Tagen danach: ich saß vor der Glotze. Zwei Programme Ost und zwei Programme West ermöglichten es einigermaßen mitzukriegen, was läuft. Oder was laufen sollte. Die Frau und die Kinder reagierten auf meine ständigen Tag- und Nachtschichten auf dem Kanapee mit Unverständnis. Sie liefen jeden Montag mit um den Leipziger Ring und riefen den einen Spruch: Wir sind das Volk – bumm – bumm bumm bumm. Für die Kinder war es ein Abenteuer, mehr nicht.

Und dann war die Mauer offen. Einfach so. Weil einer sich verquatscht hatte. Oder er hatte sich nicht verquatscht. Keine Ahnung. Es folgten 30 intensive Jahre der Neuorientierung und Vernetzung. Neue Sprachregelungen, nämlich die der Verwaltungsstrukturen, des Denkens in Projekten und die des Antragswesens galt es zu erlernen. Bescheidener Wohlstand entstand, eindeutig gibt es in der eigenen Biographie unendlich mehr Wendegewinne als Wendeverluste. Es war eine gute Zeit. Dann kam Corona und seitdem kommt es mir vor, als müsste man besonders oft „Mensch ärgere Dich nicht“ spielen: also auf eine gewürfelte Sechs warten und auf immer neuen Spielfeldfern wieder und wieder von vorn beginnen, weil Musikmensch von Gesetzen, Verordnungen, Bürokratien, Verwaltungsrichtlinien oder gar politischen Entscheidungen ein ums andere Mal rausgekegelt wird. 

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