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Foto: Gert Weigelt
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10 Jahre ballettmainz: Martin Schläpfer nimmt Abschied mit „Programm XXX“

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Als George Delnon, frisch gewählter Intendant des Mainzer Staatstheaters, zu seiner ersten Saison 1999/2000 den Choreographen Martin Schläpfer aus Bern zum Chef einer auf 20 Tänzerinnen und Tänzer vergrößerten Ballettsparte berief, schlug ihm Skepsis entgegen. Vielerorts standen gerade die Ballettkompanien auf der Streichliste der Kommunal- und Landespolitiker.

Delnon aber sah im Ballett eine besonders aktuelle, zeitgemäße Kunstform, die der Komplexität und der Fragmentierung unserer gegenwärtigen Gesellschaft besonders gerecht werde. Schläpfers Choreografien zeigten „ein immer wieder verblüffendes Mosaik von Spiegeln und Zerrspiegeln“, das jeder Zuschauer für sich selbst fruchtbar machen müsse.

Binnen kurzer Zeit fanden Schläpfer und „ballettmainz“ ihr Publikum in allen Altersgruppen und arbeiteten sich in die erste Reihe der deutschen Ballettkompanien vor. Jahr für Jahr, in gewissenhafter Regelmäßigkeit, gab es drei Premieren, römisch nummeriert von 1 – 30, zumeist dreiteilig, in der Regel mit mindestens einer Schläpfer-Choreografie und oft einer Uraufführung. Vor allem mit der Präsentation von Stücken Hans van Manens dokumentierte Schläpfer seine Herkunft vom Neoklassizismus und seinen Respekt für den niederländischen Altmeister.

In seinen eigenen Arbeiten mischte der Mainzer Ballettchef diesen Stil zwanglos, aber durchdacht, mit Modern Dance, Tanztheater und allem möglichen, was ihm integrationswürdig schien. Mit seinen Einladungen an Gastchoreographen suchte er immer wieder neue Impulse und hatte dabei beständig die Weiterentwicklung seiner Tänzerinnen und Tänzer im Blick – nicht nur in ihrem gemeinsamen Arbeiten als Kompanie, sondern auch als künstlerische Individuen und Solisten. „ballettmainz“ als Kollektiv wirkt ungemein homogen, aber dennoch erlebt man auf der Bühne zwanzig sehr verschiedene Tänzer-Persönlichkeiten.

Ein wesentliches Kennzeichen von Schläpfers Arbeiten ist sein musikalisches Gespür. Nie scheint er in Versuchung, Musik zur bloßen rhythmischen oder atmosphärischen Klangtapete zu degradieren. Immer hört er in sie hinein, folgt ihr in ihren Strukturen und Impulsen oder beantwortet sie kontrapunktisch in Bewegungen und Gesten. Dabei scheute er nicht die Auseinandersetzung mit großen Werken der Musikgeschichte. Während bei Bachs „Kunst der Fuge“ und Beethovens 7. Sinfonie die Choreografie der Kraft und dem Anspruch der Musik nicht immer standhielt, begegnete Schläpfer Mendelssohns „Reformationssinfonie“ und Tschaikowskys „Pathetique“ auch geistig und ideell auf Augenhöhe, ohne dabei seinen ästhetischen Ansatz aufzugeben.

Was viele Regisseure in Sprech- und Musiktheater auf Kosten von Text, Handlung und Musik betreiben, nämlich die Brechung von Zusammenhängen und die Inszenierung der Körperlichkeit der Darsteller, gelingt Schläpfer wie selbstverständlich und unverkrampft. Sein eher abstrakter Ansatz erspart es ihm, in der Dekonstruktion stecken zu bleiben. Auf dem Hintergrund einer gegenständlich kaum fixierten Bühne und einer zumeist textlosen Musik baut er aus der Bewegung und der Interaktion seiner Tänzerinnen und Tänzer neue Zusammenhänge, lässt Assoziationen wach werden, wagt mitunter Aussagen – und stellt auch Fragen.

Beispielhaft sind hier die Choreografien zu Neuer Musik. Anlässlich des 1000-jährigen Jubiläums des Mainzer Dombaus bot das Programm „Ballettmainz tanzt im Dom“ noch einmal die Gelegenheit zur Wiederbegegnung mit einigen dieser Arbeiten. Beeindruckend war, wie Marlúcia do Amaral, sicher die ausdrucksstärkste der vielen ausgezeichneten Mainzer Tänzerinnen, den Abend mit dem Solo „Ramifications“ zu Musik von György Ligeti eröffnete. In Drehungen, Wendungen und Streckungen, Blicken, Gesten und Gängen, Vibrationen und Pulsationen trat sie in den Dialog mit dem verzweigtem Band von Klängen, das György Ligeti komponiert hat. Eingespannt in die Längsachse des Bauwerkes zwischen dem Altar im Ostchor und dem Publikum im Mittelschiff wirkte sie wie ein lebendiges Symbol des Menschen in seiner lebendigen Körperlichkeit und Emotionalität.

Mit „Pezzi und Tänze“ auf Musik von Giacinto Scelsi und Franz Schubert und den Auszügen aus „Obelisco“ zu Klängen von Salvatore Sciarrino und wiederum Schubert traten weitere Tänzerinnen und Tänzer hinzu. Aber auch hier war das existentielle Grundmoment zu spüren – der Einzelne auf der Bühne im Bei-Sich-Sein, Außer-Sich-Geraten und Zu-Sich-Kommen, Paare und Gruppen im Nebeneinander, Beieinander und Füreinander. „Sinfonien“ zu Musik von Wilhelm Killmayer bringt zusätzlich jene Momente gespannter Erwartung mit Blicken nach oben und ins Publikum, die auch schon die „Reformationssinfonie“ prägte. Unübersehbar steht hier eine Sinnfrage im Raum.

„Programm XXX“, der künstlerische Abschied von Mainz, dokumentiert ein konsequentes Weiterschreiten auf dem Linie. Schläpfers neues Stück, spielerisch mit „5“ betitelt, steht in einer Serie mit „Ein Wald und ein See“ und „3“, den letzten beiden Projekten mit dem britischen Musiker Paul Pavey. Mit Geräuschen und wortlosem Gesang, einem Tenorhorn und dem altisraelischen Kultinstrumentes Schofar, elektronisch verstärkt und sich überlagernd, webt der Komponist und Multi-Instrumentalist einen archaisch wirkenden Klangteppich. Die Tänzerinnen und Tänzer scheinen sich an einem unheimlichen Ort mit magischen Kräften zu befinden. Immer wieder geht der Blick in den Orchestergraben, und immer wieder ergeben sich neue Impulse von dort. Die Szenenfolge hat viele ritualhafte Momente, bis hin zu einem fast quälenden langen Pas de Deux von Remus Şucheanã und Marlúcia do Amaral. Schläpfer selbst sagt dazu im Programmheft: „So ist auch meine Arbeit mit dem gespannten, ja überspannten Körper nicht einfach nur die Lust am Extremen. Es ist der Versuch, durch Intensität in eine Erhöhung zu gelangen, in eine Transzendenz, vielleicht zu Gott – zu einem Gott, der den Teufel zum Freund hat.“

Wie üblich, kontrastieren Teil 2 und 3 des Abends. Hans van Manens „Simple Things“ (aus dem Jahr 2001) auf Musik von Domenico Scarlatti und Pēteris Vasks, setzt einen spielerischen Kontrapunkt von klassischer Schönheit und feinem Witz. Das Finale bildet – als deutsche Erstaufführung nach 23 Jahren - Twyla Tharps „In the upper room“ (1986) auf die dazugehörige Musik von Philip Glass - geradezu eine Apotheose der Bewegung für ein permanent rotierendes Ensemble, nonchalant schwebend zwischen Jazztanz und Gymnastik, Akrobatik und klassischem Ballett.

Zur neuen Saison zieht Martin Schläpfer nun mit der großen Mehrheit seiner Truppe an den Niederrhein. Das „Ballett am Rhein“ wird 48 Personen umfassen – genug für fünf Premieren pro Spielzeit an den beiden Häusern in Düsseldorf und Duisburg. In Mainz übernimmt Pascal Touzeau, einst Tänzer bei William Forsythe in Frankfurt und zuletzt Ballettchef in Madrid. Auch er setzt auf die etablierte Marke „ballettmainz“. Auch seine frisch gekürte Kompanie zeigt keinen Einheitslook, und auch er plant dreiteilige Abende mit eigenen und fremden Choreographien. Bei soviel Mut zur Kontinuität darf man auf seine eigene künstlerische Handschrift besonders gespannt sein.


 

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