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100 Jahre Händel-Festspiele Göttingen.
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100 Jahre Händel-Renaissance: Göttingens digitale Festspiele

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Einige Festivals trifft die Pandemie-bedingte Absage besonders hart. Zu ihnen zählen die Internationalen Händel Festspiele Göttingen 2020. Es sollte groß und besonders opulent gefeiert werden. Vor hundert Jahren startete im Deutschen Theater Göttingen die Händel-Renaissance unter Mitwirkung begeisterter Opern-Quereinsteiger, professioneller und semiprofessioneller Mitwirkender, Intellektueller und bürgerlicher Musik-Enthusiasten. Sie wurde nach 1920 neben Malipieros Monteverdi-Ausgabe und der Stilrichtung des musikalischen Neoklassizismus ein entscheidender Impulsgeber für die Reaktivierung Alter Musik im internationalen Repertoire des 20. Jahrhunderts.

Am 20. Mai 2020 wäre im Deutschen Theater Göttingen „Rodelinda, regina de‘ Langobardi“ auf dem Plan gestanden – wie anno 1920 unter der künstlerischen Gesamtleitung des Kunstwissenschaftlers und Komponisten Oskar Hagen und anno 2000 unter Nicholas McGegan in der Inszenierung von Igor Folwill. Diesmal unter dem amtierenden künstlerischen Leiter Laurence Cummings und wie schon 2000 auf Höhe des Kenntnisstandes zur historisch informierten Aufführungspraxis. Das in einem Regiewettbewerb ausgewählte Produktionsduo Dorian Dreher und Hsuan Huang hätte den Konflikt der Königin Rodelinda zwischen Treue zum verfolgten Gatten und den Avancen seines Feindes aus dem Mailand der Völkerwanderungszeit in die Jahre der beginnenden Händel-Renaissance um 1920 verlegt. Auch alle anderen Händel-Opern von „Almira“ (HWV 1) bis „Deidamia“ (HMV 42) wären im Konzert, Kino, als Impro-Show, Pocket-Version und „Ezio“ als aufwändiges Jugendprojekt in der Göttinger Lokhalle vorgestellt worden. Statt dieser Leistungsschau gibt es die von Geschäftsführer Tobias Wolff „Digitales Festival“ genannte mediale Ausgabe, in der vom 20. Mai bis 1. Juni jeden Tag jeden Tag neue Podcasts und Musik-Clips das Online-Angebot akkumulierend erweitern.

Dabei sind die oft von Wolff moderierten Wortopern und Salon- bzw. Strand-Arien in Vokal- oder Instrumentalausgabe der unentgeltlich mitwirkenden und ihrer Göttinger Auftritte verlustigen Künstler*innen nur die täglich buntere Garnitur um das Herzstück des digitalen Händel-Festivals, das mit zehn Aufzeichnungen von Opern-Produktionen der letzten Jahre in der Mediathek des NDR einen wichtigen Online-Nebenschauplatz hat: Haupttrumpf ist die in einer Stück für Stück erweiterten Online-Version und in einem knapp 40-minütigen Film vorgestellte Ausstellung „Händel_Göttingen_1920“, die das Projekt umfänglich und vielleicht sogar noch umfassender als der Besuch im Städtischen Museum Göttingen erfahrbar macht. Zumindest auf der Ebene der Kulturvermittlung werden die digitalen Händel-Festspiele also zu einer kräftigen Selbstkonkurrenz ihres physischen Bestehens.

Zu Wort kommen bei diesem Streifzug durch 100 Jahre Festspiel-Topographie neben der Kuratorin Andrea Rechenberg neben anderen Tobias Wolff und Laurence Cummings. Der Fokus der umfangreichen Materialien liegt auf den vom Göttinger Universitätsbund veranstalteten ersten Festspiel-Jahren im Deutschen Theater Göttingen, das damals noch die 1950 dem Entwicklungsschub des Schauspiels geopferte Musiktheater-Sparte hatte, und dem Erfolgsweg der Festspiele nach 1945: Die lange Ära des Beginns einer historisierenden Annäherung unter Fritz Lehmann bis 1953, Günther Weißenborns Sänger-Hochburg bis 1980, der Durchbruch zum Originalklang mit Sir John Eliot Gardiner bis 1990, die partnerschaftliche Annäherung zu den Händel-Festspielen Halle nach der Wiedervereinigung unter Nicholas McGegan bis 2011 und die Erschließung der in Göttingen bislang noch nicht aufgeführten Händel-Opern durch Laurence Cummings.

Allerdings liegt der Schwerpunkt sehr stark auf der Bedeutung der Händel-Festspiele für die Universitätsstadt Göttingen, die schon Ende des 19. Jahrhunderts ein Image als Pensionopolis hatte. Hervorgehoben wird die bei „Rodelinde“ 1920 mit damals ungewöhnlich hoher Frauenquote antretende und heute noch bestehende Akademische Orchestervereinigung Göttingen. Auch Thyra Leisner-Hagen, Primadonna der ersten Göttinger Händel-Jahre und Ehefrau von deren Leiter Hagen, erfährt Aufwertung – neben ihren nach den Premieren nicht ganz unbestritten bewunderten Rollenleistungen in „Rodelinde“, „Otto und Theophano“ (1921) und „Julius Caesar“ (1922) als Übersetzerin des italienischen „Rodelinda“-Librettos von Nicola Haym. Auch die Bedeutung der Spielleitung durch Christine Hoyer-Masing gerät in einen bedeutenderen Fokus als bisher. Die gleitenden Übergänge zwischen experimentellen Reformversuchen und völkischen Events wird deutlich an der Persönlichkeit von Hanns Niedecken-Gebhardt, der wie der verantwortliche Bühnenbildner Paul Thiersch, Leiter der Kunstgewerbeschule Giebichenstein, mit Oskar Hagen in Halle studiert hatte, und seine Erfahrungen für die Entwicklung des nationalsozialistischen Thingspiels auch aus der Mitwirkung bei den Göttinger Händel-Festspielen, deren Spielleitung er von 1935 bis 1938 verantwortete, zog.

Der Wandel der Händel-Interpretation von 1920 bis in die Gegenwart müssen sich Interessierte allerdings außerhalb der Göttinger Dokumentation selbst zusammensuchen. Dabei liegen Meilensteine der Aufführungsgeschichte von „Rodelinde“ in Wiederveröffentlichungen auf CD vor: Zum Beispiel die Hagen-Fassung in der unerwähnten Einspielung unter Carl Leonhardt vom 15. März 1938 beim Reichssender Stuttgart, in der man den der romantischen Schicksalstragödie abgelauschten Zungenschlag der deutschen Übersetzung von Thyra Leisner-Hagen neben bemerkenswert gut ausgeführten Vokalverzierungen über silbrigen Streicherlinien à la Mendelssohn vernimmt. Oder die beiden Mitschnitte zum Gedenken an Händels 200. Todestag aus dem Jahr 1959 mit Joan Sutherland in englischer Sprache und in deutscher mit Erna Berger und dem jungen Hermann Prey. In der Ausstellung geht es also primär um die Wiederentdeckung Händels und deren Bedeutung für die Stadt Göttingen. Für das Werk selbst sowie seine Göttinger Bearbeitungs- und Wirkungsgeschichte ist Ulrich Etscheits umfangreiche Monographie über „Rodelinda“ von 1997 neben der eindrucksvollen Medienkompilation noch immer von großer Bedeutung.

Das Göttinger Alternativprogramm zu den leider entfallenen Jubiläumsfestspielen, die Tobias Wolff mit einer modifizierten Zusammenstellung in sein letztes Göttinger Jahr 2021 verlegt, macht neugierig, mit was für einem Memorabilien-Paket die Salzburger Sommerfestspiele ihr Jubiläum 100 Jahre feiern werden.

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