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Puccinis „Turandot“ am Theater Regensburg. Foto: Jochen Quast
Puccinis „Turandot“ am Theater Regensburg. Foto: Jochen Quast
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An der Bruchkante: Puccinis „Turandot“ am Theater Regensburg

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Vieles ist schon versucht worden, um Giacomo Puccinis letzter, unvollendet gebliebener Oper einen überzeugenden Schluss zu verpassen. Nicola Raab hat für ihre Regensburger Inszenierung eine intelligente Lösung parat, findet Juan Martin Koch.

Plötzlich ist da ein Flügel. Korrepetitorin Lyndsi Maus stellt sich den Klavierauszug aufs Pult und auch Sopranistin Camila Ribero-Souza greift zum Notenständer. Auf das Happy End, das Puccini und seine Librettisten für sie vorgesehen haben, ist diese Turandot nicht vorbereitet. Sie muss es vom Blatt singen.

Es ist schon ziemlich schlau, wie Regisseurin Nicola Raab den Bruch inszeniert, der wie eine offene Wunde in Puccinis letzter Oper klafft. Nachdem er mit seinen Textdichtern lange um den Schluss gerungen hatte und endlich zuversichtlich war, die psychologisch wacklige 180-Grad-Wende seiner Protagonistin von gefühlseisig zu liebesglühend musikalisch gestalten zu können, starb der Komponist. Das entscheidende Duett zwischen ihr und dem bis dahin namenlosen Prinzen, dem ersten Mann, der die tödlichen Rätsel lösen und sie zur Frau gewinnen kann, blieb unvollendet.

In der Regensburger Produktion erklingt nun die seit jeher umstrittene, aber nach wie vor meistgespielte Vervollständigung von Franco Alfano zunächst nur mit Klavierbegleitung. So wird der Qualitätsabfall, vor allem der in der Orchestrierung, erst recht ohrenfällig. Auch szenisch nutzt Nicola Raab diese Zäsur als Scharnier. Bis hierhin hat sich der Großteil des Geschehens vor einem als Projektionsfläche genutzten Zwischenvorhang abgespielt (Bühne: Mirella Weingarten). In der Mitte horizontal geteilt, öffnet er schmale Einblicke ins Innere des Kaiserpalasts. Bei Raab ist dies ein neonheller, klaustrophobische Assoziationen auslösender Raum. Turandot, beim ersten stummen Auftritt von einer Statistin verkörpert, scheint hier gefangen von Traumata der Vergangenheit und isoliert von der Außenwelt.

Bevor die unglücklich in Calaf verliebte Liù für diesen in den Tod geht, um seinen Namen nicht unter Folter vielleicht doch preiszugeben, öffnet sie nun an der Bruchkante des Stücks Turandot die Augen für die Realität außerhalb ihres emotionalen Käfigs. Der Blick auf den hinteren Teil der Bühne wird frei, der ausgezeichnete, hier endlich nicht bloß aus der Ferne verstärkt zu hörende Chor steht in Alltagskleidung bereit, die Kaisertochter, die ihr Prachtgewand abstreift, auf dem Weg in ein neues Leben zu begleiten.

So klar und plausibel wie diese Schlusswendung sich vollzieht (deren Überraschungseffekt merkwürdigerweise durch einen bereits früher geöffneten Blick „hinter die Kulissen“ geschmälert wird), ist die Inszenierung bis dahin nicht durchweg. Gewiss, was Martin Andersson an Videos und farbigen Tuschezeichnungen auf den Zwischenvorhang projiziert, ist technisch hervorragend umgesetzt und ästhetisch überzeugend. Aber kommen wir den Figuren wirklich näher, wenn wir sie in filmischer Großaufnahme sehen? Welche Rolle spielt der Chor, der hinter der Bühne singt und im Video als Gruppe Heimatloser in Mantel, Mütze und Schaal zu sehen ist? Solidarisieren sich die drei Minister zwischenzeitlich mit ihnen, wenn sie in gleicher Aufmachung aus dem Palast treten und dem guten alten China nachtrauern, um dann wieder als Folterknechte im Namen des Herrschaftssystems Calaf seinen Namen brutal zu entlocken versuchen?

So viel steht fest: Nicola Raab hat keine mundgerechten Antworten parat, sondern will das Werk jenseits von Märchenhaftigkeit und Exotismus als modernes Rätsel, als zeitlose Herausforderung wirken lassen. Das passt durchaus zu Puccinis Musik, die trotz des „Nessun dorma“-Schlagers oft erstaunlich schroff und modern ist. Der scheidende Generalmusikdirektor Chin-Chao Lin entlockte dem bravourös aufspielenden Philharmonischen Orchester die berückende Farbpalette der Partitur ebenso wie die fast brutalen Ausbrüche.

Er verließ sich dabei allerdings manchmal auch allzu sehr auf die akustisch segensreiche Wirkung des Zwischenvorhangs und die damit einhergehende Positionierung der Sänger weit vorne am Bühnenrand. So hatte vor allem Jeffrey Hartman als Calaf immer wieder Mühe, gegen die massive Orchesterwand durchzukommen. Später, im „Nessun dorma“, gelangen ihm aber einige schöne lyrische Passagen. In der Rätselszene hatte eindeutig Camila Ribera-Souzas Turandot die Hosen an und schleuderte die Spitzentöne mit elementarer Wucht in den Raum. Das „In questa reggia“ formte sie stimmlich facettenreich zur Charakterstudie einer emotional Versehrten.

Perfekt aufeinander abgestimmt präsentierte sich das Ministertrio Ping, Pang und Pong (Frederic Mörth, Jason Lee, Brent L. Damkier), die Krone des Abends gebührte aber zweifellos Anna Pisareva. Wie sie die Zerbrechlichkeit und hingebungsvolle Entschlossenheit der Liù vokal gestaltete und in resonanzreichen Pianopassagen bündelte, war überwältigend.

Großer Jubel für eine fordernde, nachdenkliche Produktion jenseits oberflächlicher Opernkulinarik.

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