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Jerry Bocks Erfolgsmusical „Anatevka“ am Theater Münster. Foto: Oliver Berg
Jerry Bocks Erfolgsmusical „Anatevka“ am Theater Münster. Foto: Oliver Berg
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Beklemmend: Jerry Bocks Erfolgsmusical „Anatevka“ am Theater Münster

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Anatevka, ein verschlafenes Nest irgendwo in der russischen Provinz abseits der großen Stadt Kiew. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Hier hält man es noch mit der Tradition. Vor allem die jüdischen Bewohner orientieren sich streng an den überkommenen gesellschaftlichen Ritualen wie an den religiösen Geboten, beides sind ohnehin ein und dasselbe. Sie geben Halt, sie liefern die Leitplanken für das eigene Denken und Tun. Auch Tevje, der Milchbauer, ist ein Mann von Prinzipien und tradierten Überzeugungen. Oder? Vielleicht nicht so ganz!

Drei Mal überschreitet Tevje in Jerry Bocks Erfolgsmusical „Anatevka“ die gesetzten Grenzen, wenn es darum geht, nacheinander drei seiner fünf Töchter „unter die Haube“ zu bringen – was normalerweise einzig und allein die dafür zuständige Heiratsvermittlerin namens Jente tut. Aber an die stört sich Tevje auch in der Inszenierung von Nilufar K. Münzing im Theater Münster schon längst nicht mehr. Und was ihm seine Ehefrau Golde immer wieder rät, geht zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder hinaus. Eine kalkulierte Grenzüberschreitung ist, was Tevje da praktiziert. Ja, einerseits die Tradition … – und dann kommen von ihm Sätze, die stets mit der Vokabel „Andererseits“ beginnen und mit denen er am Ende das traditionelle Verhalten beiseite schiebt, das man von ihm erwartet.

Es sind viele schöne und aussagekräftige Bilder, mit denen Nilufar K. Münzing und ihr Ausstatter Bernhard Niechotz die Geschichte aus dem jüdischen „Schtetl“ illustrieren. Die Bewohner von Anatevka leben in schlichten Hütten mit Türen und Wänden aus Dachlatten. Aber sie sind zufrieden mit dem, was sie haben. Die Feste werden gefeiert, wie sie fallen, der Alltag ist geprägt von Arbeit. Doch die Ordnung wird gestört. Durch eine vom russischen Wachtmeister angekündigte „kleine Demonstration“, die sich als Gewaltakt gegen die Juden im zaristischen Russland entpuppt. Da bricht die Realität ein in die „heile Welt“. Auch – und ganz anders – mit dem Auftreten von Perchik, jenem linken Studenten aus Kiew, den der gastfreundliche Tevje spontan in sein Haus holt, dass er seine Töchter unterrichtet. Das bleibt nicht ohne Folgen: sie gewinnen Selbstbewusstsein und lassen sich nicht mehr „verkuppeln“ wie all die Mädchen in den Generationen zuvor. Selbst Tevje kann sich zaghaft mit Perchiks revolutionären Ideen anfreunden. Wieder kommt sein „Einerseits“ (die Tradition) und stante pede sein „Andererseits“. Im Dorf macht er sich damit keine Freunde, wenn er den Einsprüchen seiner Töchter letztendlich duldet und seinen Segen gibt zur Wahl des jeweiligen Bräutigams.

Beklemmend sind die Szenen der Verwüstung, die während der Hochzeit von Tochter Zeitel und Schneider Mottel von den russischen Soldaten angerichtet werden; anrührend der Moment, da Tochter Hodel ihre Familie verlässt, um ihrem wegen seiner revolutionären Umtriebe nach Sibirien deportierten Perchik zu folgen. Mit großer Sensibilität zeigt Nilufar K. Münzing dann ganz am Schluss das Ende des Schtetls namens Anatevka: alle Bewohner haben den Ort binnen drei Tagen zu verlassen! Münzing verzichtet auf jede Form von Plakativität – und weckt damit umso mehr all jene imaginären Bilder von den vernichtenden Pogromen, die man im 20. Jahrhundert in ganz Europa hat erleben müssen.

Doch auch die Lebensfreude, die Unbekümmertheit der Leute in Anatevka bekommt in dieser Inszenierung großen Raum. Auch etliche witzige Momente überzeugen, etwa der große, von Tevje seiner Frau vorgegaukelte Traum, der die Ehe der ältesten Tochter legitimieren soll. Oder der fast schon etwas sentimentale Augenblick, da sich Tevje und Golde nach ewigen Zeiten des bloßen „Funktionierens“ mal wieder eingestehen, dass sie sich lieben! Da kann Münzing mit dem Solistenensemble ebenso wie mit dem von Joseph Feigl einstudierten Opernchor geradezu aus dem Vollen schöpfen: darstellerisch ist alles in lebhafter Bewegung, auch dank der Tänzer der hauseigenen Compagnie – und sängerisch ist das Ensemble allerbestens aufgestellt: Gregor Dalal als Tevje geht in jeder Hinsicht völlig auf in seiner Rolle, nicht weniger Suzanne McLeod, die sich geradezu mit Haut und Haar mimetisch der skeptischen, warnenden Gattin Golde annähert. Zeitel, Hodel, Chava – drei der Töchter Tevjes, die mit Melanie Spitau, Kathrin Filip und Finn Samira perfekt besetzt sind. Pascal Herington gibt den werbenden Mottel, Emil Schwarz den von seiner anarchistischen Mission durch und durch überzeugten Perchik. Alle übrigen Darsteller dieses personalintensiven Musicals … sie runden das Ganze zu einem intensiven Theatererlebnis. Und Kapellmeister Stefan Veselka am Pult des Sinfonieorchesters Münster spannt den musikalischen Bogen zwischen trauriger Melancholie und betriebsamer Vitalität. Standing Ovations am Premierenabend!

 

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