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Sarah Brady. Foto: © Sandra Then
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Berührungsverbote - Brittens „The Turn of the Screw“ in Hannover

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Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ ist mehr als viktorianischer Psychothriller und packende Kammeroper. Jetzt hatte an der Oper Hannover eine aufregende Gesamtleistung aus Glätte, Wahnsinn und subtiler Dramatik ihre digitale Premiere. Im Zentrum der von Stephan Zilias dirigierten und Immo Karaman inszenierten Neuproduktion steht Sarah Brady als von unstatthaftem Begehren überwältigte Gouvernante.

Nichts ist, was es scheint. Die Gouvernante wird auf Gut Bly zum Opfer ihrer Obsessionen oder eigener Vorsichtsmaßnahmen, weil die Figuren (fast immer) nur das sagen, was sie eindeutig wissen, und oft nur das tun, was ihre angeordnete Aufgabe sein sollte. Vieles bleibt in diesem Opern-Psychothriller ungeklärt, aber ein Präzisionsrealismus der Regie würde das Fragengestrüpp erst recht zum Wuchern bringen. Schon Henry James handhabte in seiner Erzählung „Die Drehung der Schraube“ (1898) die Schwellen zwischen Erleben und Einbildung vorsätzlich undeutlich. Benjamin Britten machte in seiner am Teatro La Fenice 1954 uraufgeführten Kammeroper daraus eine zweiteilige Folge von 16 Bildern mitsamt dem Prolog eines kaum verlässlichen Textzeugen. Myfanwy Piper legte über die sozial regulierten Sprachmuster und erotisch aufgeladenen Metaphern den aufreizenden Andeutungsschleier viktorianischer Prüderie. „Die Feier der Unschuld geht zugrunde“ drohen die Geister der vorausgegangenen Stelleninhaberin Miss Jessel und des „so tief unter ihr stehenden“ Dieners Peter Quint der Gouvernante. Unter Corona-Bedingungen haben diese Wesen in Immo Karamans virtuos in die digitale Form überführter Inszenierung eine noch weniger greifbare Rolle.

Aus dem nachtblauen Grundton wurde in der Aufzeichnung am 26. März schwarzweiß. Nur einmal kommen die dreizehn Solisten des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover mit Dirigent Stephan Zilias ins Bild. Die Bühne Thilo Ullrichs mit den ein Haus konturierenden Lichtlinien und einem trostlos weiß gekacheltem Bad als Episoden-Highlight ist bestechend, Fabian Posca gelingt in Spiegelung des Angebots digitaler Textilboutiquen eine hinreichend deutliche Charakterisierung: Die Gouvernante in lässiger Eleganz und Mrs. Gross mehr ladylike bekräftigen zuerst ihre sozialen Rollen. Krimi-Bausteine wie einer Leiche hinterm Duschvorhang durchsetzen die szenisch mobilisierte Graphic Novel. Diese Zeichen speichern wie Brittens Musik und die einfrierenden Bilder Bedeutungsreserven. Eine phänomenale Leistung: Hochdramatische musikalische Schärfe, Karamans beeindruckend viele Schichtungen des Textes aufgreifende Regie und digitales Environment kommen perfekt zusammen. Die Hannoveraner Produktion von „The Turn of the Screw“ ist, überdies in der erstklassigen NDR-Aufnahme, eines der erfreulichsten Stream-Resultate seit Beginn der Lockdown-Initiativen.

Die Nöte der Gouvernante mit dem ihr entgleitenden Geschwisterpaar, die Drohungen durch Geister und die Analogien des vorletzten Jahrhunderts zu den Konventionen von heute überträgt Karaman bestechend. Ihre Nacht durchreitet die Gouvernante mit wilden Scheinkopulationen, durch ihre Isolation paradieren die immer gleichen Männerphantasien: Der lange Schatten des Geistes Peter Quint, die große Puppe mit scharfem Scheitel und vor allem der Knabe Miles im Bonzen-Jackett: Dieser große Junge zeigt aggressive Trotzposen und Vorliebe für schwarze Vögel, die er genauso gern erlegt wie er seine attraktive Schwester Flora neckt. Jakob Geppert trägt Schaftstiefel, zum Boss und Gentleman fehlt nur die Zigarre. Dirigentenstab und Jagdbüchse stehen für die unzeitgemäßen Begehrlichkeiten  der Gouvernante nach toxischer Männlichkeit. Sie wird dem Phantom ihrer Vorgängerin immer ähnlicher und Mangelerscheinungen trotz dekorativer Coolness immer deutlicher.

Das fräst sich durch die Netzkabel bis an die Endgeräte. Kein noch so beiläufiges Detail von Brittens genialer Musik bleibt vom Orchester und vom hochsensiblen Sängerensemble unmodelliert. Die Musiker gehen dem herben Kolorit und der hintergründigen Poesie der Partitur auf den Grund. Panische Erotik und die Konversation als dünner Firnis über dem Unstatthaften sind auch hörbar, wenn Monika Walerowicz als Mrs. Grose einen eleganten Fels aus Solidität und Sicherheit spielt. Kraftvoll agieren die insgesamt vier Soprane: Keine viktorianischen Säuselpüppchen, sondern starke Frauen. Weronika Rabek als schon erwachsene Flora ist nicht mehr pädagogisch formbar, das vormoderne Fach der Opernsoubrette hat man an großen Bühnen weitgehend liquidiert. Vor allem ersingt Sarah Brady als Gouvernante grandios und hochsensibel ihre psychotische Persönlichkeitsverwüstung. Figürlich fast entsorgt ist durch Schatten- und Silhouettenspiele der hier wenig verführerische Peter Quint von Sunnyboy Dladla. Er und der Prologist Marco Lee sind im Hintergrund, doch von dort hat jede tenorale Silbe der beiden die Kraft quälender und lockender Nadelstiche. In der bis zum Schluss tragfähigen Glätte von Karamans Inszenierung offenbart sich, dass soziale Distanzen und Berührungsverbote den Sturz in menschliche Abgründe rapide beschleunigen und überdies nachhaltig begünstigen.


  • Benjamin Britten: The Turn of the Screw. Kammeroper in einem Prolog und zwei Akten - The Prologue: Marco Lee - The Governess: Sarah Brady - Miles: Jakob Geppert (Knabenchor der Chorakademie Dortmund) - Flora: Weronika Rabek - Mrs. Grose: Monika Walerowicz – Peter Quint: Sunnyboy Dladla - Miss Jessel: Barno Ismatullaeva - Niedersächsisches Staatsorchester Hannover - Ltg.: Stephan Zilias – Inszenierung: Immo Karaman – Bühne: Thilo Ullrich – Kostüme, Bewegungscoach: Fabian Posca – Licht: Susanne Reinhardt - Video: Philipp Contag-Lada – Dramaturgie: Regine Palmai.
    Streams wieder am Mi 28.04.2021 / 19:30 – 21:30 und Sa 15.05.2021 / 19:30 – 21:30 – Digitaler Vorverkauf: 5,00 € – 35,00 €

 

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