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Foto: Jörg Metzner
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Elektroschocks als Vorahnung elektronischer Musik – Atze-Produktion „Beethoven – ein Leben“ auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin

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Das ATZE Musiktheater hatte zum Beethoven-Jahr ein Stück über Ludwig van produziert, das nun mit Verspätung herauskam – auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin. „Wahre Kunst ist eigensinnig, lässt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen“, heißt es auf einer eigenen Seite des Programmhefts, wie auch Beethovens Ausspruch, „Eine falsche Note zu spielen ist unwichtig, aber ohne Leidenschaft zu spielen, ist unverzeihlich!“.

Kultursenator Klaus Lederer fasst im Vorwort des vierfarbigen, reich bebilderten Programmhefts diese Zusammenarbeit in Worte: „Die Pandemie war hier einmal ursächlich für etwas unerwartet Schönes, für eine wunderbare Zusammenarbeit zweier Berliner Musiktheater, über die ich mich außerordentlich freue.“

Die Inszenierung von Thomas Sutter überträgt Ulv Jakobsens gedrängtes, hoch geschichtetes Indoor-Bühnenbild vom Theater auf dem Campus der Beuth-Hochschule auf den breitflächigen Außenraum-Bühnenaufbau der letztjährigen „Rheingold“-Bühne der Deutschen Oper.

Vielfältige Spielattribute umgeben einen ausgehöhlten Konzertflügel. Am veritablen Flügel auf der linken Seite der Bühne spielt die Bearbeiterin Sinem Altan und leitet die Aufführung musikalisch.

In seiner Spielvorlage „Beethoven – Ein Leben“ pickt sich der ATZE-Theaterleiter und Autor Thomas Sutter diverse Stationen aus dem Leben des Komponisten heraus, die antichronologisch in 13 Szenen für 13 Ensemble-Mitglieder in wechselnden Rollen und Kostümen (von Verena Hemmerlein) aufgeteilt werden.

So folgt hier den Geburtswehen von Beethovens Mutter gleich der letzte Tag im Leben des Komponisten: zum finalen vierten Bauchstich wird er mit Stricken an den Armen festgehalten. Mit seinem jungen alter Ego (Timo Hastenpflug) teilt sich der alte Komponist (Justus Carrière) – mal im Wechsel, mal in ergänzender Rede oder als gesprochenes Duett – die autobiografisch nachempfundenen Sätze. Dabei wandern Beethovens Gedanken gerne konkret in eine ferne Zukunft („Jannis Joplin, die hatte Kraft!“).

Wie in einem Musical ertönt die Revolutionsszene und dann die von Graf von Pergen (Hans-Georg Pachmann) durchgeführte Konterrevolution, als Gefangennahme der Beteiligten mit rot-weißem Flatterband. Musikalisch collagiert die Bearbeiterin die Marseillaise mit Haydns Kaiser-Hymne. Dem Ärger des Komponisten über seine mit Flüstertüten auftretenden Kritiker, unterstützt von Trommel, Triangel und Tamburin, folgt der Rückgriff auf Beethovens Schülerschaft bei Haydn.

Beethovens Tinnitus, sein dumpfes Dröhnen in den Ohren, wird durch E-Bass signalisiert, zugleich seine „heiße Angst, dass jemand meinen Zustand bemerken könnte“.

Das Thema „Beethoven und die Frauen“ ertönt als Mixtur aus Rezitation (Brief an die unsterbliche Geliebte), einem wie eine Musical-Nummer vorgetragenen Beethoven-Lied (Claudia Renner) und einem Liedkunst-Vortrag (Begüm Tüzemen), gefolgt von dem als Quartett arrangierten Lied „Nur wer die Sehnsucht kennt“.

Beethovens beginnende Taubheit geht hier einher mit erotischem Empfinden: durch einen Kuss verschwindet auch für die Rezipient*innen der Musikklang – tonlos spielt das von Sinem Altan dirigierte dirigierte Quartett pantomimisch weiter.

Ein Blick in die Bonner Kindheit, mit teppichklopfender Mutter, holzhackendem Vater und nervigen Brüdern, wird gepaart mit einem ersten Katastrophen-Erlebnis und musikalisch mit dem ersten Satz der Fünften. Den Brand des Schlosses signalisieren drei rote Tücher und weitergereichte Löscheimer, dazu summt das Ensemble eine Komposition von Altan.

Die sich als vergeblich erweisende Hoffnung auf eine Ehe ist personalisiert in Josephine von Brunsvik (ausdrucksstark Evelyne Cannard). Beethovens Arzt Professor Wawruch (Ralf Bockholdt) entdeckt in der Schatulle eines Miniatur-Flügels das Heiligenstädter Testament – mit flüsternden Echos des Ensembles.

Eine Phrase aus der Pastorale wird als Vokalise vorgetragen. Sinem Altan leitet die Klänge von Donau, Wind und Regen mit Dirigentenstab leitet und unterstützt zugleich mit ihrer linken Hand am Flügel den Bass. Zur Appassionata ertönt Schillers Ode an die Freude.

Originell wird vom alten Beethoven die Pause eingeleitet: die wiederholt von ihm vorgebrachte Frage an seinen Arzt, wie lang er noch zu leben habe, ergänzt er diesmal mit „wieviel habe ich noch? 25 Minuten brauche ich – als Pause!“

Auch Beethovens häufige Wutanfälle werden mehrfach thematisiert. Ein solcher „Raptor“ wird musikalisch durch Elektronik und optisch mit Stromschnüren aus dem Schauspielflügel illustriert. Altans Arrangements kombinierten geschickt das 17-köpfige Kammerorchester mit einer Vier-Mann-Band, wobei der junge Beethoven auch selbst einmal zur E-Gitarre greift.

Napoleon vor Wien lässt Beethoven die Frage stellen, wie sich Künstler an die Macht verkaufen, verknüpft mit der Hoffnung, so etwas werde es in der Zukunft nicht mehr geben; aber Beethovens Arzt kontert: „Heute verkaufen sich Künstler an Major Labels.“

Anlässlich seines 40. Geburtstages sinniert Beethoven, dass es wohl in 200 Jahren überall künstliche Augen geben werde, die unser Tun überall beobachten können, so dass der Herr im Himmel dann überflüssig werde. Beethovens „Für Elise“, als sein Versuch, Therese Malfatti von Rodenbach zu gewinnen, wird verrockt, und kurz darauf verurteilt Beethoven seine Komposition: „Hätte ich doch diesen Mist niemals komponiert!“

Sinnig wird Beethovens fortgeschrittene Taubheit durch stumme Lippenbewegungen der Mitspieler symbolisiert. Ein Hörrohr, durch welches ihm alle Stimmen wild durcheinander zu klingen scheinen, lehnt er entschieden ab: „Wawruck, schmeißen sie dieses Hörrohr auf den Müll!“ Statt dessen werden Konversationshefte an die ihn Umgebenden verteilt.

Aus der „Missa solemnis“ wird das Gloria chorisch intoniert, wobei die Musiker der Band die Herrenstimmen singen. Die Einzelseiten des Notenkonvoluts werden an Wäscheleinen aufgehängt. Beethoven dirigiert im Geiste ein Orchester und kritisiert deren Spieler, die es nur in seinem Kopf gibt: „VOR der Eins! AUF der Eins kann jeder!“ Auch der Beginn des Credo wird kurz angesungen, während (und dies ungeplant) die Blätter vom Winde verwehen.

Die neunte Symphonie, dessen Chorfinale bekanntlich zur offiziellen Europa-Hymne erklärt wurde und die zum UNESCO Welterbe gehört, darf in einer derartigen Collage nicht fehlen. Doch kommen dabei die klanglichen Möglichkeiten des Kammerorchesters und die gesanglichen des Schauspiel-Ensembles an ihre Grenzen. Also soll die fehlende Klangfülle durch eine Rockmusik-Lösung verbessert werden, hier aufgefordert von Beethoven selbst: „Nehmt meine Musik und macht daraus euer Eigenes!“. Redundant hängt das Ensemble erneut Notenblätter mit Wäscheklammern auf und tanzt im Rock-Rhythmus von Altans kompositorischer Überschreibung, „Wir allesamt, nur jeder eben anders“.

Sinem Altans Initiative, mit diesem Stück „allen Generationen die Möglichkeiten zu geben, Beethovens Werke für sich zu entdecken“, hat sich mit dieser Produktion für alle Altersstufen eingelöst: nach zweieinhalb Stunden brandet auch in der zweiten Vorstellung lang anhaltender Applaus auf, garniert mit Bravorufen für das spielfreudige ATZE-Ensemble und seine vielseitige musikalische Leiterin.

  • Weitere Aufführungen: 18., 19., 20., 21. und 24. Juni 2021 auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin und am 31. Oktober, 2., 3. November, 15., 16., 26. 27., 28. Dezember 2021, 23., 24., 25. und 26. Februar 2022 im Atze Musiktheater.

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