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Joshua Guerrero (Chevalier Renato Des Grieux) und Asmik Grigorian (Manon Lescaut). Foto: Barbara Aumüller.
Joshua Guerrero (Chevalier Renato Des Grieux) und Asmik Grigorian (Manon Lescaut). Foto: Barbara Aumüller.
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Erschreckend aktuell: Puccinis „Manon Lescaut“ in Frankfurt erschüttert

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Dass ein Klassiker zeitlos gültig ist, können meisterhafte Interpreten doch immer wieder beweisen. Den nicht nur „Puccini schlürfenden“, sondern mit-denkend-fühlenden Musiktheaterfreund erfreut das zutiefst. Das muss nicht Festspielen und ihren besonderen Produktionsbedingungen vorbehalten sein. In Frankfurts innovationsfreudigem Opernhaus erschreckt und bestürzt ein derartiges Erlebnis sogar – und unser Kritiker Wolf-Dieter Peter war dabei.

Regisseur Àlex Ollé, einer der Köpfe von „La Fura dels Baus“, zeigt nämlich vor aller Musik auf dem Zwischenvorhang erschreckende Video-Szenen (Emmanuel Carlier): der Maschendraht eines Grenzzauns wird aufgeschnitten, Menschen drängeln hindurch und laufen vom Schlepper gehetzt ins Dunkel. Dann fährt der Vorhang hoch: da liegt ein banal heutiges Gartenlokal mit jungen Leuten, Spiel, Suff und amourösem Getändel (Frankfurts spielfreudig abgestufter Chor). Hinten kommt ein Van an – und aus ihm steigen die eben gezeigten Flüchtenden, darunter auch ein hübsches Mädchen. Ein hinter Sonnenbrille unkenntlicher, wohlstandsbeleibter Boss lässt die Neuen vom Bodyguard-Schläger sortieren und erkennt das Potential der unsicher-kessen Kleinen. Doch ein junger Mann hat sich schon heillos in sie verknallt, schwärmt singend von „Donna non vidi mai…“ drauflos, während im Hintergrund die Lokal-Deko „L-O-V-E“ deutlich wird … die Kleine soll ins Kloster? Egal, ob es Notlüge oder echte Fluchtursache ist: der junge Mann und sie hauen im geklauten Van ab – Vorhang.

So heutig, visuell und dramaturgisch konsequent und überzeugend – weil Libretto-konform – bleiben Regisseur Ollé und Dramaturgin Stephanie Schulze. Der schmierig-fette Boss Geronte (souverän ohne Getue Donato Di Stefano) verdient sein vieles Geld in einem modernen „Goldenen Käfig“, einer glamourös glitzernden „L-O-V-E“-Table-Dance-Bar mit einer ganzen Reihe von Viel-Haut-anmacherisch-zeigenden-Girls (Bravo Statisterie-Ladies!) – und eine ist „sein Pferdchen“ – und da wird erst klar, dass dieses eine schlank-rank-agile Girlie wirklich Asmik Grigorian im sexy Nichts an Kostüm ist und leiderfüllt „In quelle trine morbide…“ singt und eben auch von „silenzio gelido… e freddo“. In dieser Welt der käuflichen Illusionen wirkt die Liebesemphase Des Grieuxs noch verführerischer und so ganz „anders“; doch Manon will allzu gierig ihren Geldanteil – und wird verhaftet. Puccinis Musik erklingt zu diesen Szenerien wie der utopisch schöne Überzug zur bitter-aktuellen Realität. Da hätte in Lorenzo Viottis Dirigat einiges rasant-zupackender angepackt werden können, doch im Gesamtkontrast wirkt die Diskrepanz wie Wirklichkeit contra Hoffnung.

Existentielle Unbedingtheit

Mit der nächsten „Station“ dieser scheiternden Lebensentwürfe ist dem gesamten Team – einschließlich Ko-Regisseurin Carrasco, Bühnenbildner Alfons Flores und Kostümbildner Lluc Castells – ein Alptraum „gelungen“: ein schlecht beleuchtetes Abschiebelager aus Maschendraht-Zellen am Ende aller Zivilisation, wo auch fast alles zu Ende geht – weshalb der Bürgerchor (differenzierte Einstudierung: Tilman Michael) auch nur aus einer Lebens-Ferne hereinklingt. Nach misslungener Polizeibestechung durch den sonst gewieft berechnenden Bruder Lescaut (agil und baritonal viril Iurii Samoilov) wirkt die trennende Abschiebung eines diebischen „Flittchens“ inmitten anderer Huren noch bitterer als sonst und Des Grieuxs verzweifelte Mitfahrbitte so rigoros unbedingt, dass ein junger Kapitän Verständnis haben muss: „Los, Schiffsjunge, an Bord!“

Noch existentiell unbedingter das Schlussbild: ein schwarzes, leeres Nichts, in dem die vier „L-O-V-E“-Buchstaben wie tote Bäume oder abgestorbene Kakteen verdreht stehen. In dieser Wüstenei ereignet sich das Todesdelirium der beiden inmitten kreisender Buchstaben als „Sänger-Darsteller-Sternstunde“ – eine jener „Tutto e finito“-Beschwörungen, wie sie dem singenden Menschen nur in rundum singulär einstudierter Oper und auch da nur in Ausnahmemomenten gelingt: in Asmik Grigorian und dem debütierenden US-Tenor Joshua Guerrero treffen zwei junge Menschen aufeinander, die bereit sind, ihre körperlich-seelische Verfallenheit in Spiel und Gesang bis zur selbstvergessenen Entäußerung zu steigern – erschütternd und unvergesslich.

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