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Foto: Monika Rittershaus
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Kopftheater – Leonard Bernsteins „Candide“ an der Komischen Oper Berlin

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Die auf Voltaires satirischer Novelle „Candide ou l’Optimiste“ beruhende Handlung von Leonard Bernsteins „Candide“ verlangt nach einer aberwitzigen Folge von Schauplätzen, die selbst als Ausstattungsrevue kaum adäquat zu realisieren wären. Barry Kosky hat einen umgekehrten Weg eingeschlagen: den in die Vanitas des Endes der Handlung – ein Kopftheater auf der zumeist leeren Bühne. Wichtig ist dem inszenierenden Hausherrn das Spiel, das Tempo, die Intensität einer in ihren Spitzen ausgezeichneten Solist*innen-Riege und der sich wieder einmal überbietenden Chorsolisten der Komischen Oper Berlin.

Die Neuinszenierung erfolgte im Rahmen der derzeitigen Festlichkeiten zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag, in dessen Rahmen die Komische Oper auch den Marlon Brando-Film „On the Waterfront“, für den Bernstein die Filmmusik komponiert hat, unter Frank Strobel live erklingen lässt.

Sieben Jahre nach der vergleichsweise opulenten Inszenierung von Bernsteins vorletzter Fassung von 1989 für die Scottish Opera an der Staatsoper im Schillertheater, erklingt nunmehr die Fassung des Royal National Theatre in großer Orchesterbesetzung aus dem Jahre 1999, für die John Caird originale Texte von Voltaire eingearbeitet hat, in einer von Martin G. Berger 2017 für das Nationaltheater Weimar geschaffenen neuen deutschen Fassung.

Bereits im ersten Bild, den Schulbankreihen der Privatschule des Dr. Pangloss im Schloss Donner-Strunkshausen, welches hier wieder Schloss Thunder-Ton-Tronck heißt, war zu befürchten, dass das hier vorgelegte, immense Tempo differenzierter Bewegungsabläufe für den Abend nicht durchzuhalten sein würde. Gleichwohl überschlagen sich im ersten Akt die Szenenfolgen in Bulgarien, Holland, Paris, Wien, Lissabon und Spanien mit rasanten Umzügen der von Otto Pichler trefflich choreographierten 12 Tänzer*innen.

Mit Requisiten, Kostüm- und Bühnenbildattributen wird dabei, wie am Theater üblich, auf Teile aus dem Fundus zurückgegriffen. So begegnet der Betrachter zwei Zitaten aus der „Dreigroschenoper“, dem Galgen und einem Gefängniskäfig, und aus der „Nase“ dem runden Tisch, nun mit Table Dance-Stange, an der die Baroness Kunigunde die hier bewusst in englischer Sprache beibehaltene Nummer „Glitter and be gay“ (!) traktiert.

Absurd, und auch bewusst als absurdes Theater inszeniert ist der zweite Akt, mit Montevideo, Paraguay, der Goldstadt Eldorado, der Sklavenkolonie Surinam, dem Luxusdampfer nach Marseille, dann Venedig und einem Ort in den Alpen. Candide und seine unstandesgemäße, allerdings aus Luxussucht zur Hure gewordene adelige Geliebte, Kunigunde, um derentwillen er all die gefährlichen Reisen und Suchen auf sich genommen hatte, begegnen sich an dem von Pierrots bestückten Operntopos Venedig wieder – und haben (entgegen anderer Gepflogenheiten in anderen Inszenierungen) in Bernsteins Original kein weiteres Liebesduett mehr zu singen; sie haben sich nichts mehr zu sagen. Diese Fremdheit signalisiert Kosky durch extrem weite Entfernung der Protagonisten; statt des vom Erzähler berichteten, mehrere Tage währenden stummen Sitzens am Kanal lässt der Regisseur als Zeitraffer mehrfach das Licht an- und ausschalten.

In einem Bild treten als Könige Heinrich der Achte, Ludwig II. von Bayern Ludwig XIV. von Frankreich, Maria Stuart gegeneinander an; der Regisseur ergänzt hier – mit einem optischen Bogenschlag zur Erfolgsoperette „Die Perlen der Cleopatra“ noch die ägyptische Königin.

Apart und instrumental sehr differenziert beginnt der musikalische Leiter Jordan de Sousa, Kapellmeister an der Komischen Oper Berlin, die häufig im Konzert und Rundfunk gespielte Ouvertüre auf sehr hohem Niveau und provoziert damit bereits nach deren Ende erste Bravorufe. De Sousa findet für die multiple stilistische Vielfalt der Szenenfolge den richtigen Ton und den erforderlichen Drive zwischen Oper, Operette, Musical und Vaudeville. Augenzwinkernd arbeitet er die musikalischen Bezüge zu Offenbach und Lehár ebenso heraus, wie die zu Debussy, Messiaen oder zur älteren Musik der 300-jährigen Musikgeschichte und ihrer Formen.

Spitzenmäßig besetzt ist diese Produktion in den führenden Partien. Der Tenor Allan Clayton in der Titelpartie – zwischen seinen Opernleistungen, den kraftvollen Lyrismen des David in den „Meistersingern“ und einem Zupacken á la Faust in „La Damnation de Faust“ – zu erleben, bietet uneingeschränkten Genuss, was Stimme, Mimik und Spiel angeht. Dass er kurz vor Ende noch eine unbegleitete, exzessiv-rasante Tanzdarbietung hinlegen muss und in der sich anschließenden Schlussszene weiterhin stimmlich überragt, zeichnet den keineswegs unkorpulenten Sänger ganz besonders aus.

Nicole Chevalier brilliert als Kunigunde in stimmlichen und körperlichen Rouladen, mit der ihr für Mozart eigenen Stimmschönheit und ihrer bei Rossini bewährten Beweglichkeit. Anne Sophie von Otter als Alte Frau beginnt mit einem schier endlosen, gesprochenen Monolog (in dessen Folge die Souffleuse am Premierenabend manchmal lauter zu vernehmen war als die Mezzosopranistin), aber stimmlich und in ihrem Spiel durchaus souverän und beglückend.

Gesungen wird – und das ist an der Komischen Oper durchaus nicht Usus – ohne Mikroports. Eine Ausnahme bildet da der (Sänger-)Darsteller des Dr. Pangloss und des Voltaire, Franz Hawlata (diesmal, im Gegensatz zu seinem Bayreuther Hans Sachs ganz ohne Zigarette). Seine der Bühnenhochlautung inadäquate Aussprache mag bei dem mit süddeutschem Idiom gezeichneten Lehrer Dr. Plangloss angehen, ist aber in den Szenen als französischer Philosoph störend.

Bejubelt wurde Tom Erik Lie als androgyne Putzfrau Martin mit einer Nummer, in der immer wieder „Scheiße“ besungen wird und in einer endlosen Aufzählung menschlicher Fehler. Dominik Königer als schwuler Bruder der Kunigunde und später als Jesuit, der von Candide umgebracht wird, wie auch zahlreiche weitere Ensemblemitglieder in zumeist mehreren Rollen – machten dann aber doch einen Qualitätssprung zwischen den Hauptpartien und denen der Nebenrollen deutlich.

Der lange währende Goldregen in Eldorado (Bühnenbild: Rebecca Ringst) mit seiner gold- und paillettenglitzernden Bevölkerung und den roten Schafen (Kostüme: Klaus Bruns) ist ein Bild, das – ganz im Stile des Hauses – von diesem Abend in Erinnerung bleiben wird, vielleicht auch der zum wiederholten Male ins Spiel gebrachte Globus, zuletzt als ein riesiger, langsam vor- und zurückgerollter, dann von den Händen der Tänzer in die Lüfte erhobener blauer Planet. Denn nach seinen fragwürdigen und schlimmen Erfahrungen auf seinen Reisen durch die „beste aller Welten“ will Candide einen Garten bestellen.

Am Ende der dreieinviertelstündigen Premiere uneingeschränkter großer Jubel für das von Kosky als „amerikanische Operette“ gedeuteten Werks. Noch während der Applausordnung erfolgte durch den Hausherrn und Regisseur per Mikrofon die Begrüßung dreier aus den USA zur Premiere angereister Verwandter Leonard Bernsteins, zweier Töchter und eines Neffen des Komponisten.

  • Weitere Aufführungen: 1., 12. 21., 31. 12. 2018, 10., 25. 1., 3. 2., 27. 3., 3. 4., 30. 6. 2019.

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