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Ovationen für Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Bernd Uhlig
Ovationen für Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Bernd Uhlig
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Lautlose Knallkörper in musikalisch klirrender Kälte: Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper Berlin

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Mit einem der radikalsten Werke der Operngeschichte, „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, eröffnete Dietmar Schwarz, der neue Intendant der Deutschen Oper Berlin, programmatisch seine erste Spielzeit. Lothar Zagrosek, der 1997 bereits die Uraufführung dieser herausragenden Partitur des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Hamburg geleitet und das Werk dann auch in Stuttgart einstudiert hatte, versetzte das von Instrumentalisten und Vokalisten umringte Publikum bereits mit den ersten tonlosen Streichern und klirrenden Luftgeräuschen in atemlose Spannung, die sich nach knapp zwei Stunden, angefüllt mit ungewöhnlichen Klangspektren, in Ovationen für den anwesenden Komponisten entlud.

In seinem eigenen Libretto zerlegt Helmut Lachenmann das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen in Laute und Konsonanten der Textur und schafft musikalisch vielfältige klangliche Entsprechungen zu dieser Handlung, etwa mit Violinen als Streich-Holz und japanischen Tempelgongs für den Ofen. In diese Erzählweise integriert Lachenmann einen Text über Schwefelfeuer der Vulkane von Leonardo da Vinci, sowie einen Text der Kaufhaus-Brandstifterin und Terroristin Gudrun Ensslin, die der Komponist persönlich gekannt hat.

So mischt der Schüler Luigi Nonos „Botschaften, Gesellschaftskritik, existenzielle Einsamkeit“, und „’regressiven’ Protest“. In seinem zähem Ringen von der ersten Idee, im Jahre 1975, über Peter Ruzickas Kompositionsauftrag im Jahre 1987, bis zur Uraufführung, ließ der Komponist „nur die Erzählung und ihre Struktur“ für sich gelten.

In der Uraufführung hatte Regisseur und Ausstatter Achim Freyer ein assoziatives Spiel seines Ensembles in einem löcherigen Bühnenboden entfesselt. Für die vergleichsweise karge Neuinszenierung von David Hermann hat Ausstatter Christof Hetzer die Dekoration bis ins Bühnenportal vorgezogen: ein viergeschossiges Haus ist die Simultanspielfläche hinter dem hochgefahrenen Orchester. Erstmals szenisch agieren die beiden, musikalisch der Märchenfigur entsprechenden Solosoprane (Hulkar Sabirova und Yuko Kakuta). Sie lesen und singen die Partitur aus einem „Handbuch deutscher Lyrik“, besteigen den zentralen Flügel ihrer Wohnung und umhüllen sich mit Decken, die sie aus der Deckenverkleidung gezogen haben. Ein „nasser Onkel“ (Benjamin Block), der durch einen Mauervorsprung der Fensterfront zu Besuch kommt, bringt leere Flaschen mit, die er mit Feuerwerkskörpern, als den Schwefelhölzern heutiger Silvesternächte, bestückt.

Im Stockwerk über den Mädchen haust ein „Cineast“ (Steffen Scheumann), der seine gemordete, im Regal liegende Braut (Jennie Gerdes) in qualitativ miserablen, sommerlichen Home-Videos betrachtet, bis die Untote ihn heimsucht und das Geschick umkehrt, obgleich sie schließlich selbst mit dem Kopf im Kühlschrank verendet. Das titelgebende Mädchen (Bini Lee) lebt als Außenseiterin der Gesellschaft in einem Luftschacht, der vom Keller bis ins Dach führt, wo ein Chemielabor aufgebaut ist. Den Weg nach oben macht ihr ein Schwarzer (Ahmed Soura), der auf dem Dachboden Unterschlupf gefunden hat, streitig.

Am Ende aber entdeckt das Mädchen einen Freiraum neben dem Dachboden, ein asiatischer Mönch (Florian Bilbao) schlüpft in die erlösende Rolle der Großmutter des Mädchens und beide tanzen im bewegten „Raumschiff Enterprise“-Himmel (Choreographie: Sommer Ulrickson). Bisweilen werden von der Regie Assoziationen von Text und Musik bildlich aufgegriffen, etwa in Form von Schneegestöber – weißem Rauschen – auf der Leinwand.

Am Ende betritt die Instrumentalistin der Shô, einer Mundorgel aus der rituellen japanischen Musik, im schwarzen Kleid und mit langen, roten Haaren, den Raum der singenden Doppelgängerinnen des Mädchens, die sich unter ihren Decken bereits zur Ruhe begeben haben.

Lachenmanns Komposition hat im Laufe der fünfzehn Jahre seit ihrer Vollendung nichts an Intensität und Faszinationskraft eingebüßt. Der Opernbesucher ahnt oft nur, was er hört, etwa wenn die Vokalisten hinter dem Hauptorchester sich die frierenden Hände reiben. Aufs Neue fesseln die kollektiven Styropor-Geräusche, das Kratzen der Holzbläser an ihren Instrumenten, das tonlose, quasi kantable Hauchen der Spieler in ihre Trompeten und Tuba und das ebenso tonlose Streicherrauschen.

Hierfür bietet die Deutsche Oper Berlin, mit Instrumental- und Vokalgruppen in den seitlichen Rängen und im Rücken des Auditoriums, einen deutlich intimeren Rahmen als die Opernhäuser der beiden vorangegangenen Produktionen. Im Spannungsaufbau, mit der Leonardo-Escapade „...zwei Gefühle...“ als Climax und dem ingeniös ausgestalteten Finale der col legno-Wischbewegungen der Streicher, offenbart sich das vom Komponisten als „Musik mit Bildern“ benannte Musiktheater in der von Lothar Zagrosek mit Ruhe und Souveränität geleiteten Berliner Erstaufführung als veritable Oper.

Uneingeschränkter Jubel für Solisten, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, für das Poduktionsteam und für den Dirigenten, insbesondere aber für den Komponisten.

Weitere Aufführungen: 19., 20., 22., 23. September 2012

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