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Wozzeck in Augsburg. Foto: A.T. Schaefer
Wozzeck in Augsburg. Foto: A.T. Schaefer
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Musiktheater als gesellschaftlicher Krankheitsbefund –Alban Bergs „Wozzeck“ im Theater Augsburg

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Augsburg ist immer auch „Brecht-Stadt“. Diesmal gab es dessen „Verfremdungseffekt“ in besonderer Form: die allerorten grassierende Grippe hatte Robin Adams schon in den Endproben niedergezwungen; tapfer sang er dennoch die Premiere; doch nun konnte er als Wozzeck auf der Bühne nur agieren, während Bariton Hans Gröning am Bühnenrand vom Blatt sang. Das gab dem Abend noch mehr den Charakter „Fallstudie mit expressiver Musik“.

Intendantin Juliane Votteler ist den Augsburger keine bequeme Führungsfigur. Ihr von den Stuttgarter Zehelein-Jahren geprägtes dramaturgisches Denken sieht auch Musiktheater als immer wieder herausfordernd unbequeme Klage über die „Verhältnisse, die nicht so sind“. Nach der Großtat, 2013 Luigi Nonos „Intolleranza“ quer durch das ganze Haus und alle Sparten vorzuführen, folgt nun mit dem gleichen Bühnenteam Alban Bergs “Wozzeck“. Regisseur Ludger Engels, Ausstatter Ric Schachtebeck und Votteler als Dramaturgin setzen dabei eine Hauptbotschaft fort: Weder Nonos Klage von 1960 noch Büchner-Bergs singuläres Monument für den verloren gewalttätigen „kleinen Mann“ sind „von Gestern“ – beide zielen erschreckend ins Heute, in eine finanzmarkt-dominierte, inhumane Realität.

So kreist im weiten schwarzen Raum auf großer Drehbühne eine ganz heutige Welt in kleinen Ausschnitten: der gutsituierte Hauptmann lässt sich zuhause im Ledersessel rasieren und maniküren; die Hecke daneben wird von Andres und Wozzeck zurechtgestutzt; hinter einem Designer-Schreibtisch diagnostiziert der Doktor Wozzecks Fehlentwicklung; kleinbürgerliche Kommode, Stuhl und Bett begrenzen die kleine Welt Maries samt ihrem Kind; für die Wirtshausszene schieben die Tanzlokalbesucher ein Klavier auf die Drehbühne und fünf Orchestermusiker kommen mit Notenpulten dazu … quer durch die kreisende Szenerie geht immer wieder der Augsburger Chor als letztlich desinteressierte, weil aufs eigene Fortkommen mit kleinen uniformen Bewegungen fixierte Bürgergesellschaft von 2015 – vorbei auch an einem offenen, hölzernen Raumgerüst: Wozzecks Stube und genereller „Zufluchtsort“. Er ist weniger Soldat, auch nicht Großstadt-Prekariat, eher einer dieser kleinen, völlig verhetzten „Mini-Schein-Selbständigen“ hierzulande, die sich mit miesem Niedriglohn und mehreren Kleinjobs am Rande des Existenzminimums durchwursteln, ihr Nicht-Genügen durchleiden und am Ende gewalttätig werden.

Aberwitziger Nicht-Schutz

Diesen „Lebensweg“ stützte das Bühnenteam mit einer ebenso sinnfälligen wie gespenstischen Hinzuerfindung: Wozzeck umwickelt sein Kabäuschen mit durchsichtiger Plastikfolie – vergeblicher Abstand, aberwitziger Nicht-Schutz, gerade nicht versteckte Armut inmitten von uns. Finaler Höhepunkt: Wozzeck schleppt die erstochene Marie in seine Zelle, bedeckt sie mit Folie und wickelt dann sich selbst komplett ein – während draußen sein Söhnchen erst von den anderen Kindern gehänselt wird, in die gleichen Bewegungsabläufe verfällt und sein Holzpferdchen auch in Folie einwickelt … da setzte der Beifall zu Recht zögerlich ein.

Diesen szenischen Qualitäten entsprach das musikdramatische Niveau unter Dirigent Roland Techet, auch wenn die Orchester-Aufschreie nach Wozzecks Mord noch wüster tosen könnten. Dafür gelangen die schrägen Wirtshausszenen und die Klagen ums Kleinbürger-Glück. Die guten Rollenporträts – alle Solisten aus dem Ensemble bis hin zum glänzend wüsten Handwerksburschen von Eckehard Gerboth - überragte Sally du Randt als Marie: eine noch blühende Frau auf der Suche nach dem kleinen Glück. Durch die Teilung von Wozzecks Spiel und Gesang kam seine RTL-Bildzeitungsnahe, wirre Wahrnehmung noch verstörender zur Wirkung: eine nicht auf Überwältigung zielende, fast analytisch sezierende Studie des Verfalls humaner Grundlagen. Musiktheater als gesellschaftlicher Krankheitsbefund.

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