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v.l. Mareike Beykirch, Noah Saavedra, Mara Miribung, Elias Eilinghoff (vorne), v.l. Barbara Melzl, Christoph Franken, Camill Jammal, Daniele Pintaudi (hinten). Foto: © Sandra Then
v.l. Mareike Beykirch, Noah Saavedra, Mara Miribung, Elias Eilinghoff (vorne), v.l. Barbara Melzl, Christoph Franken, Camill Jammal, Daniele Pintaudi (hinten). Foto: © Sandra Then
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Musiktheatralische Stadtanatomie – Uraufführung von Thom Luz‘ „Olympiapark in the Dark“ im Münchner Marstalltheater

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Oktoberfest und Sommertourismus hat die Stadt eben überstanden. Im gleichen Zeitraum kam das neue Team des Residenztheaters an – darunter auch der Klang-Theater-Zauberer Thom Luz. Als einer der drei Hausregisseure lud er nun ins Marstalltheater, um Einheimischen wie „Zuagroasten“ vorzuführen, wie seine neue künstlerische Heimat, wie München so klingt. Auf diese ganz andere Stadtführung begab sich auch Wolf-Dieter Peter.

Der „Pate“ der Uraufführung signalisiert schon Wesentliches: Charles Ives‘ „Central Park in the Dark“ von 1906. Doch statt Ives’ einigen wenigen verführte Luz seine rund zweihundert Besucher zu einem 100 Minuten dauernden „Porträt“. Im schwarzen Spielraum standen allerlei Gerätschaften. Von der umlaufenden Galerie stieg ein Herr im weißen Smokingjackett eine Leiter herab und schlug einige wenige Takte erst auf einem Piano, auf einem Cembalo, einem Harmonium und dann einem Moog-Synthesizer an… war es etwas aus Richard Strauss‘ „Feierlichem Einzug“? Eher egal, denn anschließend dirigierte er vier Scheinwerfer, begrüßte das Publikum im heller werdenden Licht wie ein routinierter Conferencier… und brach unvermittelt ab, weil seine „Gedanken wanderten“… Inzwischen führte auf der Galerie eine Dame, lautstark erklärend, eine Gruppe von sechs Herrschaften herum und dann auf die Spielfläche. Umgeben von allerlei wirr vereinzelten Aktionen spielte Maria Miribung ein Cello-Solo, während einer der Herren feststellte, sein Gehirn sei „wie Europa in Auflösung begriffen“. Dem stand die mehrfach wiederholte Ankündigung entgegen, dass „in 100 Minuten die Symphonie beginne“. Wenig später hatten zwei Herren einen Filmprojektor in Gang gesetzt, auf dem ein München-Film auf dem Kopf stehend lief und alle mit extrem schief gelegtem Kopf dennoch etwas zu erkennen suchten. Dann fanden sich die drei Damen und fünf Herren zu einem Oktett aus zwei Violinen, zwei Bratschen, drei Celli und einem Kontrabass zusammen, rieben ihre Bögen mit Kolophonium ein – und daraus entstand Vogelgezwitscher. Anschließend übten sie mehrfach das „Liebestrank“-Motiv aus Wagners „Tristan“ – ach ja, der war ja 1865 im benachbarten Nationaltheater uraufgeführt worden… doch alle Seriosität wurde durch poppiges Rhythmusgezupfe zweier Herren auf ihren Celli abgelöst und als die gezielt leidend verhuschte Mareike Beykirch mit ihrer Bartsche nahe an die Publikumstribüne herantrat und von der Zweitklassigkeit aller Bratscher und ihrem Witzfiguren-Status erzählte – da war alles Elend der Welt beschworen.

So kunterbunt-sprunghaft-assoziativ-ausgeklügelt ging es zwischen allen Musiker-Schauspieler-Umherturner*innen weiter. Eine imaginäre Begegnung zwischen Karl Valentin und Frank Wedekind stach hervor; das „Tönen“ früherer Standkonzerte über eine erste Opernarien-Hörstube in der Kaufinger Straße in den 20er-Jahren, zurück zu den staunenswerten Einnahmen des Hofkomponisten Orlando di Lasso – Musik „O che bon echo“ – hin zu den ersten Lautsprechern samt ihren Nachklängen und Echowirkungen und weiter zur Entnazifizierungsphrase statt „Heil Hitler“ doch „Ein Liter“ gerufen zu haben samt dem Bedauern, dass der Mann nicht „Kräuter“ geheißen habe, weil dann „Heil…“, weiter zur Fremdheit Robert Walsers beim Besuch in München, Glockenspiel-Problemen und Synthesizer-Klängen aus Mozarts 1781 benachbart uraufgeführtem „Idomeneo“ samt gesungenem „Pace“-Chor… kaleidoskopartig leuchteten, blitzten und endeten abrupt Mini-Aspekte der Stadt. All das gipfelte im filmischen Auf- und Abmarsch der Musiker auf den Hügeln des Olympiageländes zu Ludwig Senfls Quodlibet-Klängen, ehe ein großes Laser-Lichtrechteck im dunklen Raum „Nichts“ einrahmte.

Erst inmitten des einsetzenden begeisterten Applauses für alle – auch Elias Ellinghoff, Christoph Franken, Camill Jammel, Barbara Melzl, Daniele Pintaudi und Noah Saavedra – stellte sich ein: in raffiniert geplanter Aktionsanarchie beschwört dieser Thom Luz scheinbar zusammenhangslos eine hyperkomplexe Quintessenz, mal so chaotisch, mal so anrührend, mal so realistisch, mal so poetisch wie Stadtleben sein kann… ein Solitär in der Musiktheaterszene.

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